Festival startet am 17. Mai und will für sechs Wochen eine Kunstrepublik inklusive Verfassung etablieren – Pussy Riot und Voodo Jürgens rocken bei der Eröffnung. Dazu Serebrennikov, Mundruczó oder Holzinger mit Projekten.
Die Wiener Festwochen rufen unter ihrem neuen Intendanten Milo Rau die Freie Republik Wien aus. Wenn ab 17. Mai das Festival erstmals unter der Ägide des Theatermachers steht, soll ein ganz neues (Revolutions-)Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen werden, machte der 47-Jährige bei der aktivistischen Präsentation im Hotel Imperial deutlich – anfangs mit den Mistreitenden in Pussy-Riot-Sturmhauben und zum Ende durch Intonation der Republikshymne “Steht auf Steht auf”.
Formal ausgerufen wird die Republik bei der traditionellen Eröffnung am 17. Mai am Rathausplatz. Er verspreche “ultrageile Bands” für die erwarteten 50.000 Gäste am Rathausplatz, wobei man außer Pussy Riot und Voodoo Jürgens noch keine Namen verraten könne. Kuratiert wird das Treiben in jedem Falle von Herwig Zamernik alias Fuzzmann. “Die Freie Republik muss man wild beginnen – und das werden wir tun”, machte Zamernik angehenden Staatsgründenden den Mund wässrig.
Wie jeder Staat braucht auch die Freie Republik eine Verfassung. Die soll am Ende in Form der “Wiener Erklärung” in Zusammenarbeit mit Stakeholdern erstellt werden. Demokratisch begleitet wird das ganze Vorhaben vom öffentlich tagenden “Rat der Republik”, zu dem unter anderen 69 Wiener Bürger und Bürgerinnen gehören – demografisch möglichst korrekt die Stadtgesellschaft widerspiegelnd. Hinzu kommen internationale Größen wie der einstige griechische Finanzminister Yannis Varoufakis, der deutsche Intellektuelle Navid Kermani oder Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, mit der Rau auch in den kommenden Jahren arbeiten möchte.
Die Wiener Erklärung, die auch technische Fragen wie die Budgetverteilung (heuer 14,4 Mio. Euro) und die Zugänglichkeit behandeln soll, soll dann als Basis für die Festwochen-Programmierung der kommenden Jahre dienen. Die Festivalzentrale wird im Volkskundemuseum – vulgo Haus der Republik – aufgeschlagen. Als Club der Republik fungieren die Rote Bar und der Weiße Salon des Volkstheaters. Und gemeinsam mit der Kunsthalle hat man die Ausstellung “Genossin Sonne” konzipiert.
Insgesamt gehen 30 Produktionen in den Verkauf, unterstrich Geschäftsführerin Artemis Vakianis, wobei insgesamt 46 Vorhaben gezeigt werden. Mit 45.000 Tickets halte man dabei in etwa die Zahl des Vorjahres, auch wenn die der freizugänglichen Projekte weiter im Steigen begriffen sei.
“Wie kann eine Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert aussehen?”, umriss Rau die Grundfrage. “Es geht um eine Weiterentwicklung der Wiener Festwochen”, konstatierte auch Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) und schlug einen Bogen zu einstigen Festwochen-Projekten wie der legendären Schlingensief-Containeraktion.
Keine Revolution ohne Schauprozesse – so auch bei den Festwochen. Im Rahmen der “Wiener Prozesse” sollen echte Juristen und Juristinnen wie Irmgard Griss oder die einstige Justizministerin Maria Berger Tribunale abhalten zu Themen wie dem Umgang der Staatsmedien mit der Coronapandemie, der Frage, ob die FPÖ oder vielleicht gar alle Parteien außerhalb des Verfassungsbogens stünden sowie gegen “die Heuchelei der Gutmeinenden” – wobei letzteres die Festwochen respektive Rau persönlich vor Gericht bringt. Als Chefankläger fungiert dabei Alfred Noll.
Widerständige Stars des Welttheaters wie der russische Exilregisseur Kirill Serebrennikov (mit dem Gesamtkunstwerk “Barocco” ab 19. Mai im Burgtheater) oder der Ungar Kornél Mundruczó, der die Familiengeschichte “Parallax” inszeniert, gehören ebenfalls zu diesem Festival-Aufbruch. Die Performerin Carolina Bianchi arbeitet bei ihrem Projekt “Die Braut und Goodnight Cinderella” damit, dass sie selbst K.O.-Tropfen nimmt und sich ihren Mitstreitenden gleichsam ausliefert.
Leonie Böhm adaptiert den buchpreisgekrönten Erfolgsroman “Blutbuch” von Kim de l’Horizon als “Blutstück” im Volkstheater (ab 18. Mai), wobei de l’Horizon selbst auf der Bühne stehen wird. Und Caroline Guiela Nguyen bringt mit “Lacrima” am 30. Mai eine Weltpremiere ins Museumsquartier, bei der sie anhand der Modeindustrie einer Spur der Ausbeutung auf dem Planeten folgt.
Musikalisch hat bereits im Vorfeld das Projekt für Aufmerksamkeit gesorgt, dass Rau Oksana Lyniv als Dirigentin für Jevhen Stankovychs Kaddish Requiem “Babyn Jar” verpflichtet hatte, der mit einigem Abstand der greco-russische Dirigent Teodor Currentzis mit Brittens “War Requiem” folgen sollte. Nachdem die ukrainische Dirigentin jedoch nicht mit dem sich nicht öffentlich von Putins Angriffskrieg distanzierenden Kollegen in einem Atemzug genannt werden wollte, luden die Festwochen Currentzis wieder aus. Nun steht “Babyn Jar” am 2. Juni im Konzerthaus für sich alleine.
Milo Rau gibt selbst sein Operndebüt mit der Dekonstruktion von Mozarts “La Clemenza di Tito”, die schon 2021 bei den Festwochen herauskommen hätte sollen, dann aber ein Coronaopfer wurde. Nun inszeniert der Intendant ab 21. Mai im Museumsquartier die letzte Oper des Komponisten mit 18 Wienerinnen und Wienern, die Erfahrungen mit repressiven System gemacht haben. Das zweite Werk, das Rau bei den Festwochen inszeniert, ist “Medea’s Kinderen” am Steinhof, wo ab 31. Mai die antike Tragödie aus Sicht der Kinder erzählt wird.
Die österreichische Starchoreografin Florentina Holzinger widmet sich Paul Hindemiths 1922 uraufgeführter Oper “Sancta Susanna”, die noch unter dem Arbeitstitel “Sancta” steht und ab 10. Juni im Museumsquartier gezeigt wird. “Ich habe mich zwei Biestern angenommen: Der Oper und der Kirche. Insofern ist das ein Traumprojekt”, zeigte sich Holzinger energetisiert, auch wenn das Ganze ein unheimlich komplexes Vorhaben sei. Sie sei keine Opernexpertin, aber das Extreme am Genre fasziniere sie: “Die Oper lebt über Stilisierung – wie ich auch.”
Eine der zentralen Pfeiler der neuen “Republik” ist die Akademie Zweite Moderne, deren Ziel es ist, der mangelnden Repräsentanz von Komponistinnen respektive nonbinären Menschen im Musikbetrieb entgegenzuwirken. Schließlich stammten doch nur zwischen 2 und 7 Prozent der gespielten Werke aus der Feder von Frauen, so Rau. Jährlich will man zehn Tonsetzerinnen einladen, sich an der Vernetzungsplattform zu beteiligen, die auch der Aufführung von Werken dienen soll. Heuer sind dies etwa Du Yun, Dilay Doğanay oder Brigitta Muntendorf.
Am 8. und 9. Juni sind im Arnold Schönberg Center Diskurse und im Radiokulturhaus Konzerte angesetzt. Und ab 22. Mai ist die neue Multimediaoper “Woman at Point Zero” der britisch-libanesischen Akademieteilnehmerin Bushra El-Turk zu sehen. “Es hat etwas unglaublich Bestärkendes, wenn eine Gruppe von Komponistinnen – viele davon aus dem globalen Süden – zusammenkommen”, freute sich El-Turk auf die Akademie. Als Schirmherrin für die Akademie wurde Nuria Schönberg-Nono gewonnen. Am Ende von Raus erster Intendanz sollen somit 50 Frauen Teil der Akademie Zweite Moderne gewesen sein.
Aber nicht nur das laufende Schönberg-Jahr schlägt sich im Programm nieder, auch der Jahresjubilar Karl Kraus wird bei den Festwochen gewürdigt, etwa wenn Größen wie Florian Scheuba, Cornelius Obonya, Barbara Zeman oder Clemens J. Setz den Sprachmeister und sein Werk aus heutiger Sicht beleuchten.