Ohne Urteil ist am Montagabend am Wiener Landesgericht der Prozess gegen einen 60-Jährigen zu Ende gegangen, der aufgrund seines Äußeren – ein markanter weißer Bart – in der Justizanstalt (JA) Josefstadt als “Weihnachtsmann” bezeichnet wird.
Die Geschworenen verwarfen die auf versuchten Mord lautende Anklage mit 7:1 Stimmen und entschieden auf schwere Körperverletzung. Darauf hin setzten die drei Berufsrichter den Wahrspruch wegen vorgeblichen Irrtums der Geschworenen aus.
Das bedeutet, dass nach Überprüfung der Aktenlage durch den Obersten Gerichtshof (OGH) der Prozess gegen den Mann am Landesgericht vor einem neu zusammengesetzten Schwurgerichtshof wiederholt werden muss. Der bisher Unbescholtene bleibt bis dahin in U-Haft. Seine Verteidigerin Anita Schattner kritisierte die Vorgangsweise der Berufsrichter. “Wenn nicht akzeptiert wird, was Geschworene nach einem ausführlichen Beweisverfahren entscheiden, führt das die Laiengerichtsbarkeit ad absurdum”, meinte sie gegenüber der APA.
Angeklagter stellte Mordversuch in Abrede
Der Angeklagte hatte den ihm von der Staatsanwaltschaft unterstellten Mordversuch bestritten. Er räumte zwar ein, am 29. Juli 2024 im Zug einer tätlichen Auseinandersetzung im Sigmund-Freud-Park in Wien-Alsergrund auf einen 55-Jährigen eingestochen zu haben. Er behauptete jedoch Notwehr bzw. Nothilfe.
Er habe den Kontrahenten, der zunächst einen Freund beschimpft und beleidigt und sich dann mit ihm geschlagen hätte, mehrfach zu Boden befördert, schilderte der 60-Jährige. Der 55-Jährige sei jedoch immer wieder aufgesprungen und stetig aggressiver geworden: “Ich war schließlich in einem Erschöpfungszustand. Ich hab’ gespürt, dass mich die Kondition verlässt. Da hab’ ich Angst bekommen.” Er habe befürchtet, “zusammengeschlagen” zu werden, betonte der “Weihnachtsmann”: “Da hab’ ich falsch reagiert und hab’ ihm das Messer in den Bauch gestochen. Ich hab’ gehofft, er hört endlich auf und ist eingeschüchtert.” Auf die Frage, wie oft er denn zugestochen habe, erwiderte der bisher Unbescholtene: “Es wird fünf Mal gewesen sein. Ich hab’ aber nicht gezählt. In dem Moment, wo er aufgehört hat, hab’ ich sofort aufgehört.” Der “Angestochene” habe ihn “noch vorwurfsvoll angeschaut”, da sei er “in Panik geflüchtet.”
Opfer: “Habe gesehen, wie ich Löcher in mir habe”
Der 55-Jährige wurde lebensgefährlich verletzt. Die Klinge des Klappmessers drang ihm zwei Mal in den linken Brustkorb, wobei der Brustkorb eröffnet wurde und ein Stichkanal bis an das dem Herzen vorgelagerte Fettgewebe reichte. Das Herz selbst wurde nicht beschädigt. Ein Stich ging in die rechte Brust, der ebenfalls die Brusthöhle eröffnete und einen Pneumothorax – eine Ansammlung von Luft zwischen Lunge und Brustwand – bewirkte. Zwei weitere Stiche eröffneten die Bauchhöhle, durchsetzten die Bauchmuskulatur und erreichten die Dickdarmschlinge, wobei diese unbeschädigt blieb.
An eine den Stichen vorangegangene tätliche Auseinandersetzung hatte der 55-Jährige vor Gericht keine Erinnerung. Er habe damals im Park fünf bis sieben Dosen Bier und eine kleine Flasche Wodka getrunken, verriet er als Zeuge. Er habe irgendwann den Begleiter des Angeklagten zurechtgewiesen, weil dieser eine Frau belästigt hätte: “Da hat er angefangen, auf mich einzustechen.” Der Angeklagte habe damit vermutlich deshalb nicht aufgehört, “weil ich stehen geblieben bin. Ich habe gesehen, wie ich Löcher in mir habe.”
Eine rasch funktionierende Rettungskette und eine Notoperation retteten dem Mann das Leben. Der von der Wiener Rechtsanwältin Anita Schattner vertretene Angeklagte hatte sich Ende August freiwillig auf einer Polizeiinspektion gestellt. Davor war mit einem Foto, das eine Zeugin der Tat aus Unterhaltsamkeitserwägungen vom “Weihnachtsmann” kurz vor der Messerstecherei im Sigmund-Freud-Park aufgenommen und auf TikTok gepostet hatte, per medialer Veröffentlichung nach ihm gefahndet worden. Aufgrund seiner auffallenden Erscheinung war dem 60-Jährigen wohl klar, dass er erkannt und als der gesuchte Messerstecher identifiziert werden würde.
Bewaffnet seit Fiaker-Zeiten
Auf die Frage der vorsitzenden Richterin, weshalb er mit einem Messer bewaffnet gewesen sei, erwiderte der Angeklagte: “Das ist eine schlechte Angewohnheit, seit ich Fiaker bin.” Erlernt hatte der 60-Jährige den Beruf des Hafners und Kachelofenbauers, als späterer Fiakerfahrer habe er es “zum bronzenen Fahrabzeichen gebracht”, erläuterte er den Geschworenen. Zuletzt sei er diesem Beruf aber nicht mehr nachgegangen: “Es gibt schon Gründe, warum ich dort nicht mehr glücklich bin. Das Milieu ist teilweise schon kriminell.”
Der Angeklagte hatte sich an einem lauen Sommerabend mit einem Freund vor der Votivkirche getroffen, wobei die beiden dem Alkohol zusprachen. Zu vorgerückter Stunde tanzten sie zur Musik, die eine Gruppe junger Burschen und Frauen abspielten, die sich in die Wiese gelegt hatten und feierten. Im Zuge dessen kam es laut Anklage aus nichtigem Anlass zu einer wechselseitigen Prügelei zwischen dem Angeklagten und dem späteren Opfer. Der “Weihnachtsmann” stieß den 55-Jährigen schließlich in ein Gebüsch. Dabei habe es sich um einen “Judo-Wurf” gehandelt, betonte der Angeklagte vor den Geschworenen. Er habe seinerzeit Kampfsport betrieben und es in jüngeren Jahren zum braunen Gürtel gebracht. Auf die Frage, weshalb er dann keine weitere Judo-Technik angewendet und stattdessen zugestochen hätte, als der Widersacher nicht von ihm abließ, antwortete der 60-Jährige: “Es war eine völlig falsche und übertriebene Notwehr.” Er habe aufgrund der lang anhaltenden Schlägerei “auch schon Kopfweh” gehabt. “Das kann aber vom Wein gewesen sein”, wandte die vorsitzende Richterin ein.