In Kanada gibt die Liberale Partei am Sonntag bekannt, wer Nachfolger von Justin Trudeau als Parteichef und damit auch Premierminister des Landes wird. Von vier Bewerbern bei der internen Wahl gelten der ehemalige Zentralbankchef Mark Carney und die frühere Finanzministerin Chrystia Freeland als Favoriten.

Trudeau, der 2013 Parteichef und zwei Jahre später Regierungschef wurde, hatte Anfang Jänner angesichts schlechter Umfragewerte und parteiinterner Meinungsverschiedenheiten seinen Rücktritt angekündigt. Die Wahl bei den Liberalen erfolgt inmitten massiver Auseinandersetzungen mit den USA wegen der Drohungen des neuen US-Präsident Donald Trump mit höheren Zöllen gegen Kanada. Zudem wird in diesem Jahr das Parlament in Kanada neu gewählt. Die Wahl muss bis Oktober abgehalten werden, könnte aber auch binnen weniger Wochen anberaumt werden.

Trump wirbelt Stimmung durcheinander

Vor Weihnachten schien es sicher, dass die oppositionellen Konservativen die Parlamentswahl klar gewinnen würden. Der Handelsstreit mit den USA und die wiederholten Drohungen von Trump, Kanada solle “51. Bundesstaat” der Vereinigten Staaten werden, wirbelten die politische Stimmung jedoch durcheinander und ließen die Liberalen unter Trudeau mit seiner harten Haltung gegenüber Trump in den Umfragen deutlich an Boden gewinnen.

“Der Kontext ist völlig beispiellos”, sagte Frederic Boily von der University of Alberta der Nachrichtenagentur AFP. “Im Moment ist für die Kanadier nur wichtig: ‘Wer ist die richtige Person, um es mit Donald Trump aufzunehmen?'”

Zwei aussichtsreiche Anwärter: Carney und Freeland

Vier Kandidaten haben sich für die Wahl zum Parteivorsitzenden der Liberalen qualifiziert, aber nur zwei werden als aussichtsreiche Anwärter angesehen: Darunter ist Carney, der die Bank of Canada geleitet hat, ehe er als erster Nicht-Brite Präsident der Bank of England wurde.

Seine größte Herausforderin ist Trudeaus ehemalige Finanzministerin Freeland. Sie hatte im Dezember einen dramatischen Bruch mit dem Premier vollzogen. In ihrem Rücktrittsschreiben warf Freeland dem Regierungschef vor, sich auf Wählergeschenke zu konzentrieren, statt die kanadischen Finanzen im Vorfeld der von Trump angekündigten Zölle zu stabilisieren.

Ex-Zentralbankchef wirbt mit Krisen-Erfahrung

Sowohl Carney als auch Freeland haben ihre Kampagnen auf die Bedrohung durch Trump ausgerichtet. Carney, der nie ein gewähltes Amt innehatte, betonte, die kanadische Zentralbank durch die Finanzkrise 2008 und 2009 und die Bank of England durch die Turbulenzen nach dem Brexit-Votum gesteuert zu haben. “Kanada steht vor einer der schwersten Krisen in unserer Geschichte”, sagte er. “Ich weiß, wie man Krisen bewältigt.”

Carney könne wegen seiner “wirtschaftlichen Erfahrung und seiner Seriosität” punkten, sagte die Politikwissenschaftlerin Stephanie Chouinard vom Royal Military College. “Er kennt das globale Finanzsystem und weiß um die Stärken und Schwächen der kanadischen Wirtschaft.”

Trump “größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg”

Freeland warnte, Trump sei die “größte Herausforderung, mit der unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert war”. Sie hob ihre Erfahrung hervor, bereits direkt mit Trumps erster Regierung (2017-2021) verhandelt zu haben. Die Liberalen erklärten, 400.000 Mitglieder hätten sich zu der internen Wahl angemeldet, die bereits seit Ende Februar läuft.

Premier Trudeau wollte in den vergangenen Tagen kein genaues Datum für eine Übergabe der Amtsgeschäfte nennen. Reportern sagte er, er werde mit der oder dem neuen Vorsitzenden einen Zeitplan für den Übergang ausarbeiten.

Trudeau und seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger werden Kanadas Regionalgouverneurin Mary Simon besuchen – die offizielle Repräsentantin von König Charles III. Diese wird den neuen Parteichef oder die neue Parteichefin mit der Regierungsbildung beauftragen.

Parlamentswahl

Wann die Kanadier für die Parlamentswahl an die Urnen gehen werden, ist noch nicht klar. Viele Umfragen sehen die Konservativen weiterhin als Favoriten. Die Liberalen holten zuletzt jedoch massiv auf. Sie haben versucht, den Chef der Konservativen, Pierre Poilievre, mit US-Präsident Trump zu vergleichen und kritisierten dessen rechtspopulistischen Stil.

Fachleuten zufolge könnte es sich für die Liberalen angesichts der Drohungen von Trump auszahlen, vorzeitige Neuwahlen auszurufen. Trudeau hatte Trump vorgeworfen, die kanadische Wirtschaft mit einem Handelskrieg zum Einsturz bringen und so die Annexion Kanadas “erleichtern” zu wollen.

Umfragen zufolge könnte die Wahl anders sein als jede andere in der jüngeren Geschichte Kanadas – die sonst dominanten innenpolitischen Themen wie die Gesundheitsversorgung und Wohnkosten könnten von Trump in den Schatten gestellt werden.

Ein Drittel der Kanadier sieht Vereinigten Staaten als feindliches Land

“Das ist eine einzigartige Krise, und wir wissen nicht, wie groß sie sein wird und wie lange sie andauern wird”, sagte der Meinungsforscher Jean-Marc Leger. “Heute betrachtet ein Drittel der Kanadier die Vereinigten Staaten als feindliches Land. Das ist historisch und führt zu erheblichem Umbruch in der Denkweise der Kanadier.”

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