“Tàr” – Das Idol wankt

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Die Welt der klassischen Musik – das werden Insider wohl besser beurteilen können – soll voll sein von Despoten, von machtgeilen Dirigenten, missgünstigen Musikern und Lehrern, die ihre Schüler aufbauen, aber auch vernichten können. Nicht allzu oft findet im Kino ein Einblick in diese Welt statt. Bei Hanekes “Klavierspielerin” durfte man etliche Gemeinheiten von Isabelle Huppert beobachten, aber der Film hatte ein ganz anderes erzählerisches Ziel als nun Todd Fields “Tàr”. Während der Musik vor allem im Kino gerne eine Verklärung zukommt, ist “Tàr” ein Porträt jener Menschen, die diese Verklärung für ein Publikum herstellen. Insofern ein (sicher nicht nur) fiktiver Blick hinter die Kulissen einer Branche, die von einem beinharten Verdrängungswettbewerb dominiert wird. Diesen Eindruck gewinnt zumindest, wer “Tàr” ansieht.

Die Heldin ist hier mehr so etwas wie eine Antiheldin. Lydia Tàr, mit viel Einsatz und großem Können dargestellt von Cate Blanchett, ist die Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, sozusagen der Boss des (zweit)wichtigsten Orchesters der Welt. Tàr ist eine Koryphäe der Klassik, zumeist sind solche Posten wie der ihre mit Männern besetzt. Weißen Männern. Tàr hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt: Emmy, Grammy, Oscar, Tony. Sie ist der personifizierte Erfolg. Und schickt sich nun an, als erster Mensch überhaupt mit einem Orchester, den kompletten Zyklus von Gustav Mahler aufgenommen und aufgeführt zu haben. Die Pandemie hat bisher die Finalisierung des Vorhabens vereitelt, aber nun beginnt Tàr die Vorbereitungen zu Mahlers 5. Sinfonie.

Die Perfektion dieser Lydia Tàr, straff organisiert von Assistentin Francesca (Noémie Merlant), sie beginnt just in diesem Moment zu bröckeln. Die Leidenschaft in der Ehe mit ihrer Ersten Violinistin Sharon (Nina Hoss) wird stumpfer, ihre gemeinsame Tochter wird in der Schule gehänselt. Ihre einstige Schülerin, die sie gefördert hat und dann fallen ließ, hat sich das Leben genommen. Zugleich tritt mit der jungen russischen Cellistin Olga (Sophie Kauer) eine Frau ins Orchester ein, die Lydia Tàr von Beginn an magisch in ihren Bann zieht.

Monster, mit dem
man mitfiebert

Kritiker warfen dem Film vor, dass es normalerweise weiße Männer in Hauptrollen wären, die derartige Figuren spielen würden: Machtgeil und ausbeuterisch, von sich eingenommen und für jeden Missbrauch zu haben. Todd Field aber schiebt diese Eigenschaft seiner weiblichen Hauptfigur zu, als wollte er sagen: Das Schlechte im Menschen, es ist nicht auf ein Geschlecht beschränkt. Auch Frauen missbrauchen, nutzen aus, wollen Macht. Es ist halt nur gerade die Zeit nicht unbedingt die, um solche Wahrheiten dergestalt auszuposaunen; schließlich sind die meisten Frauen nicht in der Position von Lydia Tàr, sondern es sind meistens Männer. Auch die RSO-Chefdirigentin Marin Alsop fühlte sich von der Schilderung einer toxischen, lesbischen Dirigentin provoziert. Sie fühle sich “als Frau, als Dirigentin, als Lesbe vor den Kopf gestoßen, eine Frau in dieser Position zu zeigen und sie dann als Misshandelnde darzustellen”.

Blanchett gibt dieser Antiheldin jedenfalls das rechte Gesicht; ein Monster, mit dem man mitfiebert, selbst in seinen schlimmsten Momenten. Todd Field komponiert seinen dritten Spielfilm mit Blanchetts Hilfe zu einem Panoptikum über Cancel Culture und MeToo, das Grenzen nicht nur auslotet, sondern sie auch überschreitet. Im Mittelpunkt ein Idol, das ins Wanken gerät, und Blanchett könnte dafür zu Recht ihren dritten Oscar gewinnen, weil sie wie ein Brennglas fungiert auf eine Welt, in der mit der Kunst fast alles zu rechtfertigen ist.

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