Enorm” statt “fett”, das Wort “weiblich” ganz entfernt, Gesichter werden vor Schreck nicht mehr “weiß”, Erklärungen, dass Glatzen normal sind und nicht immer eine Hexe drunter steckt. Die sprachlichen Anpassungen der Kinderbücher von Roald Dahl lösten kürzlich einen regelrechten Aufschrei aus. Der britische Puffin-Verlag bestätigte, dass über hundert Änderungen bei Begriffen rund um Gewicht, Gewalt, Gender und Hautfarbe vorgenommen wurden. Sogenannte Sensitivity Reader lasen die Werke auf mögliche Anstößigkeiten und beanstandeten alles, was irgendwie ansatzweise jemanden beleidigen könnte. Mittlerweile hat Puffin einen Rückzieher gemacht und versichert, dass die die Originalversionen weiter erhältlich bleiben werden.
Anstatt mit nicht zeitgemäßen Ausdrücken der Vergangenheit die Gemüter zu erhitzen, gerieten durch die Modernisierungen die Sensitivity Reader ins Kreuzfeuer. Trotz dessen, dass die “sensiblen Leser*innen” auf einmal in aller Munde waren, können sich die wenigsten vorstellen, was diese Tätigkeit eigentlich ist. Die etwas kuriose Berufsbezeichnung geht auf den englischen Begriff “sensitivity” (Empfindlichkeit, Sensibilität) zurück. Gewöhnlich werden die “empfindlichen Leser*innen” von Verlagen beauftragt, um Werke auf spezielle Inhalte zu überprüfen. Fälschlicherweise wird oft angenommen, dass zu diesen Musterungen lediglich beleidigende Inhalte, Stereotype oder mangelndes Verständnis für marginalisierte Gruppen gehören – wie etwa im Falle Dahls.
Im Prinzip handelt es sich bei der Tätigkeit aber um ein Lektorat von Experten und Expertinnen zu einem bestimmten Thema. Üblicherweise wird vor einem ersten prüfenden Lesedurchgang ausgemacht, welche potenziellen Probleme ein Text haben könnte. Sensitivity Reader bestimmen zudem nicht selbst, welchem Projekt sie sich als Nächstes annehmen – das geschieht in Absprache mit dem Verlag sowie den Autoren oder Autorinnen eines Texts.
Nach der Dahl-Überarbeitung wurde Zensur gewittert. “Der Beruf eines Lektors ist es, in einen Text einzugreifen und ihn zu verändern. Es gibt immer Dinge, die überarbeitet werden in einem Werk. Das wird nicht als Zensur deklariert, sondern ist ein normaler Lektoratsprozess”, so Sensitivity Readerin und Herausgeberin Minitta Kandlbauer. Die Autoren eines Texts müssen die Änderungsvorschläge auch nicht annehmen: “Da gibt es aktuell Fantasievorstellungen, wie das abläuft. Wenn etwas geändert wird, ist es meist auf Wunsch des Verfassers und nicht von uns diktiert.”
Aus der PR-Branche
Auch dass es verschiedene Versionen eines Textes gibt, sei völlig normal. “Niemand würde Parzival in der Originalfassung lesen, da man Mittelhochdeutsch meist gar nicht versteht”, so Kandlbauer. Ähnlich wie bei Dahl genießen die Leser die Freiheit, zu entscheiden, welche Fassung einer Geschichte sie bevorzugen. Der Extremfall wirft insgesamt ein schlechtes Licht auf die “sensiblen Leser*innen”. Die teils unfertigen Formulierungen vermitteln den Eindruck, dass es sich vielmehr um einen Marketinggag als um sinnerfassendes Überarbeiten handelt. Dabei ist bloßes Übermalen von Begriffen nicht das Ziel der Sensitivity Readers.
Die aktuelle Debatte um die Berufsgruppe verärgerte viele Gemüter. Dabei ist diese Form des Lektorats keine Neuheit. Sensitivity Readings werden bereits oft bei kürzeren Texten durchgeführt, vor allem in der Marketing- und PR-Branche. Textstellen, die problematisch werden könnten, werden dabei gekennzeichnet und reflektiert. “Ich versuche, so unvoreingenommen wie möglich an Texte heranzutreten. Problematische Stellen ändere ich nicht gleich, ich markiere sie und komme später darauf zurück. Es ist wichtig, Texte normal durchzugehen, wie wenn man privat ein Buch liest”, erklärt Demba Sanoh, Consultant und Sensitivity Reader. Man müsse ein Werk mehrmals lesen, um den Text überhaupt als Ganzes im Kopf zu behalten. Lediglich nur nach problematischen Reizwörtern zu suchen, komme für den Berliner nicht in Frage.
Nur ein Marketing-Gag?
In den Umwälzungen von Dahls “Matilda” sah man diesen Ansatz des Sensitivity Readings wohl etwas anders. Aus: “Sie fuhr mit Joseph Conrad auf Segelschiffen aus alten Zeiten. Sie reiste mit Ernest Hemingway nach Afrika und mit Rudyard Kipling nach Indien”, wurde in der Neufassung: “Sie besuchte Landgüter des 19. Jahrhunderts mit Jane Austen. Sie reiste mit Ernest Hemingway nach Afrika und mit John Steinbeck nach Kalifornien”, um jeglichen kolonialen Aspekt auszuradieren.
Dennoch bereiten die sprachlich unfertigen Formulierungen in Dahls Kinderbüchern Angst, dass Sensitivity Reader nun allen beliebten Klassikern den Kampf ansagen. Dabei war das bei weitem nicht die erste Umfärbung von bekannten Texten. Vor einigen Jahren wurde Astrid Lindgrens “Pippi Langstrumpf” unter die Lupe genommen. Das problematische N-Wort wurde dabei ausrangiert. Zu Recht, findet Sanoh in diesem Beispiel: “Das tut niemanden weh. Im Gegenteil, viele Kinder haben es schwer ein Buch zu finden, in dem sie selbst sichtbar sind, ohne beim Lesen verletzt zu werden. Das Wort war damals nicht okay und ist es heute erst recht nicht.” Doch nicht jedes Kinderbuch muss von Grund auf verändert werden. Bei der Befürchtung, andere Kinderbücher mögen ein ähnliches Schicksal teilen wie Dahls, handle es sich um eine künstlich hochgefahrene Aufregung. Es ist nicht realistisch, dass jedes veröffentlichte Buch einem Sensitivity Reading unterzogen wird. Selbst größeren Verlagen würden dafür die Ressourcen fehlen. Zum anderen wird fälschlich interpretiert, dass die Überarbeitung von Texten automatisch damit einhergeht, dass frühere Fassungen vom Markt genommen werden. Dass es vielfältige Optionen gibt, die durchaus häufig angewendet werden, wird dabei gerne übersehen.
Fußnoten statt Ausradieren
Primäres Ziel ist es, kritische Begriffe richtig zu kontextualisieren, nicht literarische Auslöschung zu betreiben. Das kann ebenso in Fußnoten und in Vorwörtern getan werden. Oft macht es sogar mehr Sinn Begrifflichkeiten ausreichend aufzubereiten, anstatt sie zu entfernen: Sanoh nennt hierfür als Beispiel einen Roman, der während der Kolonialzeit spielt. Wird in so einem Fall für die Periode authentische Sprache verwendet, sei das in Ordnung und könne der Geschichte helfen, sofern explizit angemerkt wird, wieso bestimmte Terminologie in der Gegenwart problematisch ist.
Wer nun den Berufswunsch hegt, Sensitivity Reader zu werden, muss nicht zwangsläufig eine strenge Ausbildung durchlaufen. Es reicht aus, Expertise über einen Themenbereich zu haben. Die Sensitivity Readerin Kandlbauer absolvierte ein Germanistikstudium und hat sich dabei mit rassistischer Sprache auseinandergesetzt. Ihr deutscher Kollege Demba Sanoh ist Historiker mit Fokus auf Kolonialgeschichte. Beide gaben an, angebotene Sensitivity Readings, die nicht ihr Expertenwissen umfassen, abgelehnt zu haben. Denn diverse Hintergründe sollen dazu beitragen, dass zukünftig nicht lediglich problematische Begriffe übermalt werden.