Russland – Putins Schattenmann im Herzen der Finsternis

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“Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten und realen Personen, denen der Autor allerdings ein Privatleben und erfundene Äußerungen zuordnet. Dennoch handelt es sich um eine wahre russische Geschichte.”

So beginnt der französisch-italienische Politologe, Publizist und Politikberater Giuliano da Empoli seinen ersten Roman, einen brillant geschriebenen Politikthriller, mit dem er uns drei Jahrzehnte russischer Geschichte nach dem Zerfall der Sowjetunion vor Augen führt. Angefangen mit der Serie von Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau 1999 über den Zweiten Tschetschenienkrieg, Wladimir Putins Olympische Winterspiele in Sotschi und die Annexion der Krim, endet er ein Jahr vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Der Roman, in Frankreich seit Monaten ein Bestseller, hat 2022 den Großen Preis der Académie Française erhalten und war als Finalist um den Prix Goncourt in einer wenig rühmlichen Entscheidung der Jury nach 16 Wahlgängen “Vivre vite” von Brigitte Giraud unterlegen. Inzwischen scheint “Der Magier im Kreml” der Goncourt der Herzen geworden zu sein, und ungewöhnlich schnell ist das Buch auch, übersetzt von Michaela Meßner, auf Deutsch erschienen.

Wir erleben den Aufstieg des farblosen Apparatschiks Wladimir Putin zum einsamen Megalomanen, zum Zaren eines geschwächten Reiches, der jede Opposition ausschaltet und nur seinem Labrador vertraut, aus der Perspektive seines langjährigen Schattenmannes und “Magiers” Vadim Baranow. Dieser war Regisseur und Produzent von Reality-TV-Shows, bevor er zu Putins Spindoktor wurde und ein ganzes Land in ein politisches Theater verwandelte. Von nun an erschafft Baranov Realitäten statt Fiktionen und genießt es, “Tag für Tag auf der Weltbühne die Darbietung eines elisabethanischen Dramas” verfolgen zu können.

© C.H. Beck

Putin selbst bietet in diesem Schauspiel die größte Verwandlung: ein schlechter Schauspieler, aber “ein großer Spion”, für den Paranoia zu den Berufspflichten gehört und in dessen Kopf “nie etwas Spontanes” passiert. Nur in “seiner” Stadt Leningrad lässt er manchmal in Gesellschaft von altbekannten Judokas, Spionen und sogenannten Geschäftsleuten “den Umhang der Selbstkontrolle” zu Boden fallen.

Baranow – das fiktionale Alter Ego von Vladislav Surkov, dem bis 2021 amtierenden realen Spindoktor Putins – gerät selbst immer mehr ins Räderwerk des Systems und muss alles daransetzen, um dem Zugriff der Putin’schen Autokratie zu entkommen, die er selbst mit aufgebaut hat. 15 Jahre nach Baranovs Abschied von der Macht brodelt die Gerüchteküche, bis der Ich-Erzähler des Romans ihn ausfindig macht und in einer langen Nacht einem Monolog über Aufstieg und Fall, Macht und Ohnmacht, Fiktion und Realität lauscht.

Der mit vielen herrlichen und bösen Anekdoten gespickte Bericht Baranows über seine Erlebnisse in den Eispalästen der Macht erlaubt uns ein Verständnis Putins der ganz anderen Art. Und er zeigt die Kontinuität brutaler Herrschaft, der “Vertikalität der Macht” von den Zaren über die Sowjets bis hin zu den Oligarchen in einem entfesselten Raubtierkapitalismus mit einem Raubkatzenstreichler an der Spitze.

Da Empoli, der ein enger Berater von Matteo Renzi war und Gründungsmitglied des Thinktanks “Volta” in Mailand ist, kennt das Metier bestens. Bereits vor Jahren hat er in einem ins-truktiven Essay-Band dargelegt, wie Social-Media-Experten den Rechtspopulisten von Donald Trump bis zum AfD-Politiker Björn Höcke beim Aushöhlen der Demokratie durch gezielte Tabubrüche und die Verknüpfung von Lügen mit Halbwahrheiten zur Hand gehen (“Ingenieure des Chaos”, deutsch 2020). Nun hat er erneut ein Buch von brennender Aktualität geschrieben, inhaltlich visionär, sprachlich von größter Eleganz, eiskalt und brennend zugleich wie Wodka.

Der visionäre Roman wirft ein ebenso scharfes wie deprimierendes Licht auf die aktuelle geopolitische Lage, den Krieg zwischen Oligarchen und Höflingen, auf die Entstehung einer medial inszenierten, aber auch tödlichen Realität. Vom russischen Imperium der Lüge, der Menschenverachtung und der Kriegsverbrechen können wir uns seit einem Jahr täglich aufs Neue überzeugen. Da Empolis Roman an der Grenze von Fiktion und Realität hilft uns beim Verlieren unserer Illusionen. Er wäre ein pures Lesevergnügen, wäre die Realität hinter der Fiktion nicht so beklemmend.

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