Rückblick – Musikalische Herzensbildung

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Mein Debüt im “extra” war im Mai 1987 eine Geschichte über Neil Young. Zu dieser Zeit war ein Bekenntnis zu dem Kanadier noch ein echtes, von standfesten Individualisten allerdings gerne riskiertes Wagnis. Denn was sich in Wien für trendig hielt, rümpfte – vermutlich mit dem drögen Sentiment von “Harvest” und “Heart Of Gold” als exklusiver Urteilsbasis – die Nase über den renitenten Trotzkopf, der sich in der Gestalt eines Alt-Hippies verbarg. Einen besseren Einstieg in den gemeinsamen Weg hätte es kaum geben können.

Rückblickend stellen sich die 36 Jahre bei der “music”-Seite (auch wenn sie früher noch anders, nämlich zuerst “Jugend”, dann “Pop/Rock” hieß) als eine Art Prolog und langer nachfolgender Einakter dar. In den ersten zweieinhalb Jahren gewann ich einmal Praxis und Sicherheit im Schreiben über kontemporäre Popmusik.

Nicht unwichtig, denn es gab in Österreich – vom großen Chris Duller im “Falter” abgesehen – wenig Orientierungshilfen. Schreiben über Popmusik setzt aber genau voraus, sich klar zu werden, worum es überhaupt geht: bestimmt nicht um das Wiederkäuen ehrfürchtiger Plattitüden wie “diese herrlich rauchige Stimme”; nicht vorrangig um das Aussehen der Protagonist/innen, nicht um Verkaufs- und Besucherstatistiken, nicht um die technischen Fähigkeiten der Akteure, nicht um das Equipment, mit dem Musik hergestellt wird.

Natürlicher Abschliff

Diese Faktoren können eine Geschichte ergänzen, abrunden. Sie sagen aber kaum etwas über das Wesen von Musik. Und das ist es, worauf es ankommt: nämlich die Seele von Musik, wenn Sie so wollen, zu beschreiben.

Klingt schon verbatim wie ein Widerspruch in sich – und ist auch nur als Annäherung zu vollziehen. Keineswegs sollte man dabei jedenfalls den Fan in sich verleugnen – nichts ist schrecklicher als die Herablassung, mit der sich früher im deutschen Feuilleton Redakteure, die lieber über die Relativitätstheorie geschrieben hätten und sich über “U-Musik” ausließen, weil es irgendwer halt tun musste, dem Phänomen Pop genähert haben. Andererseits sollte man Ergriffenheit schon so weit im Zaum halten, dass sie nicht den Blick vernebelt wie die Streicher die Strukturen von Echo And The Bunnymens LP “Ocean Rain”. Durch den Lauf der Zeit findet so etwas aber eh seinen natürlichen Abschliff.

Ich habe bald auch in anderen Zeitungen und Magazinen über Pop geschrieben. In der “Wiener Zeitung” habe ich das aber immer besonders gerne getan. Ein Grund war der sich aufbauende persönliche Kontakt zur Redaktion, insbesondere zu Gerald Schmickl, der das “extra” ab 1998 leitete. Ein substanzieller Faktor war aber auch, was Martin Blumenau, den ich in der “AZ” zum Kollegen hatte, auf den Punkt brachte: “Es sind in der ,Wiener Zeitung‘ Geschichten drinnen, die anderswo nicht möglich wären.”

Ziemlich bald sah ich die “W.Z.” als eine Art Heimathafen. Ich habe diesem Hafen nie den Rücken gekehrt. Ich habe ihn während der elfeinhalb Jahre zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 2001, die ich in Diensten anderer Arbeitgeber zubrachte, seltener angesteuert, aber nach wie vor Pop-Geschichten geschrieben – meistens unter Pseudonym, aber schon ab Mitte der 90er Jahre wieder zunehmend unter eigener Flagge, und seit den frühen Jahren dieses Millenniums ohne Einschränkungen durch anderweitige redaktionelle Pflichten und Konkurrenzklauseln.

Trends, Moden, Stile sind in all den Jahren gekommen, wieder gegangen, teilweise auch geblieben (wie z.B. Freak Folk) oder haben sich in Nischen zurückgezogen: Grunge und parallel dazu Hip-Hop als letzte Illusion, mit Musik den Gang der Welt beeinflussen zu können.

Wir hatten Jungle, Drum & Bass und Trip-Hop. Wir hatten ein Soul-Revival mit musikalisch eher epigonalen, kommerziell aber sehr erfolgreichen Galionsfiguren wie Amy Winehouse und Adele. Wir hatten Balkan-Pop, wir hatten Post-Rock, Afro-Pop, Math-Rock, viele Adaptionen von Krautrock und Psychedelia. Wir hatten Dance-Pop Marke Hot Chip und LCD Soundsystem. Seit den Nullerjahren haben wir durch Acts wie Owen Pallett, These New Puritans, Black Midi oder Black Country, New Road sogar erlebt, wie einst zu Recht gefürchtete Stil-Hybride wie Klassikpop und Rockjazz wieder ordentlich auf Schiene kamen.

An Ansehen gewonnen

Und wir hatten, ab der zweiten Hälfte der Nullerjahre nicht mehr zu ignorieren, einen Aufschwung österreichischer Popmusik, wie man ihn vordem nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Der Einsatz des Radiosenders FM4 und vieler engagierter Labels und Vertriebe brachte zuwege, was keine Debatten um eine Quotenregelung zuwege gebracht haben: Österreichischer Pop wurde bemerkt, gehört, anerkannt und eroberte in weitere Folge sogar das deutschsprachige Ausland.

Zeitlich ungefähr parallel dazu vollzog sich mit dieser Zeitung etwas Wunderbares: Wenn man früher bei Anfragen um Bemusterung, Interviews und dergleichen bisweilen ein Zögern bemerkt hatte, ob sich das “für eine so kleine Zeitung” überhaupt auszahlte, so überschlugen sich jetzt die Geschäftspartner vor Entgegenkommen. Die “Wiener Zeitung” hatte an Ansehen und Gewicht gewonnen. Meines Erachtens ist das nicht zuletzt ihrem Webauftritt geschuldet – den es laut medienpolitischer “Expertise” bekanntlich gar nicht gibt. Gute Nacht, Österreich.

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und beschäftigt sich im “extra” seit 1987 mit Pop und Literatur.

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Mit Mut und Wehmut

Eine Bilanz von dreißig Jahren Popkritik im “extra” der “Wiener Zeitung”.

Zu Beginn der 90er Jahre begann ich neben meiner Tätigkeit als Schallplattenverkäufer auch als freier Mitarbeiter für diverse Medien über Literatur und Musik zu schreiben. Nach ersten mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen für die “Kleine Zeitung” fand ich über publizistische Umwege und meine Mitarbeit bei der Tiroler “GEGENWART” – eine vierteljährlich erscheinende “Zeitschrift für ein entspanntes Geistesleben” – durch deren Herausgeber Stefanie Holzer und Walter Klier den Weg zum “extra” der “Wiener Zeitung”.

Das war der Beginn einer konstanten, Jahrzehnte überspannenden Zusammenarbeit, die neben der Beschäftigung mit Literatur vor allem der Popmusik und deren Entwicklungen gewidmet war. Abschied nehmen heißt immer auch Erinnerungen auffrischen und Bilanz ziehen. Der Herstellungsprozess hat sich in diesen drei Jahrzehnten nachgerade drastisch verändert – von redaktionellen Vorbesprechungen über das alte Haustelefon und per Post verschickten Manuskripten zu E-Mail-Kontakten und per Mail gesendeten Texten.

Die “Pop/Rock”-Seite im Jahr 1998.

– © Rauschal

Das Layout der Seite und die Länge der Texte haben sich verändert, und auch die unterschiedlichen Formate der Musikberichterstattung waren einem steten Wandel unterzogen: Auf “Legenden & Underdogs” folgte “Second-hand”, “Songs & Rhymes” wurden von “Short Cuts” abgelöst; die sogenannten “Scheiben” als Besprechungen mit rund tausend Zeichen blieben hingegen über die Jahre ein fixer Bestandteil der “music”-Seite des “extra”.

Die Fluktuation der Ansprechpartner in der “music”-Redaktion hielt sich im überschaubaren Rahmen. Es blieb in drei Jahrzehnten bei drei Namen: Gerald Schmickl, Francesco Campagner und Andreas Rauschal. Trotz all ihrer Eigenheiten standen die drei immer für Planungssicherheit, Offenheit und Vielfalt. Musikalische Vielfalt prägte auch meine Arbeit als Popmusikkritiker für das “extra”. Der musikalische Bogen spannte sich von Ryan Adams bis zu Steve Wynn, von den Brüdern zu den Violent Femmes, von sanfter Folkmusic bis zu krachendem Noiserock. Inmitten der Vielzahl an Spielarten galt es, qualitativ eigenständig und resistent gegenüber Trends und Moden aktuelle Musik zu beschreiben, Begeisterung zu vermitteln und mit Mut, Eigensinn und einer gesunden Ignoranz gegenüber allem Geschmäcklerischen Popmusik zu beschreiben.

Dass dabei nicht selten die Wärme der Seele gegenüber der Kühle des Verstandes die Oberhand behielt, um so mehr über den Zusammenhang von Pop und Leben auszusagen, sollte hier (noch) einmal explizit festgehalten werden. Der stimmige Mix aus Information, ästhetischer Auseinandersetzung und musikalischer Herzensbildung blieb über all die Jahre mein Credo als Popkritiker. Es ging mir immer darum, im Unüberschaubaren das Kostbare und Außergewöhnliche zu finden und darüber zu berichten. Einfach, weil Musik ein sehr wichtiger Teil meines/unseres Lebens ist – wie auch die adäquate Berichterstattung darüber.

Die “music”-Seite im “extra” war über all die Jahre ein guter Platz dafür. Auch deshalb ist es ein Abschied mit wehmütigem Lächeln. Aber auch mit ein wenig Stolz und sehr viel Dankbarkeit. Das Schlusswort gehört Richard Hawley und einer Zeile aus seinem Song “The Only Road”: “So please keep me in your heart.”

Heimo Mürzl, geboren 1962 in Friesach, lebt seit 1980 in Graz, war/ist (Schallplatten-)Verkäufer und Sozialarbeiter (Alltagsbegleitung). Er schreibt seit 1992 kontinuierlich im “extra” über Literatur und Pop.

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