Die Menschheit war gestern, und geblieben sind von ihr nur toxischer Müll und ein zerstörtes Klima. Wer oder was ihr nachgefolgt ist, lässt sich schwer benennen: In der postapokalyptischen Stadt Anemos tummeln sich diverseste Lebensformen, hybride Wesen, in denen die Grenzen zwischen Humanem, Animalischem und Pflanzlichen verschwimmen. Sieben Pronomina sind nötig, um alle Geschlechter zu bezeichnen. Auf dem oder im Rücken einer Hirsch-Frau namens Titania lebt eine große Spinne. Die Leiber sind von Krankheiten gezeichnet, Tumore entfalten sich wie Blüten.
Es steckt nicht wenig Body-Horror in Elisabeth Klars neuem Roman “Es gibt uns”, der in die hochfantastische Spielart der Science-Fiction hineinreicht. In dieser Zukunft nach dem Ende des Anthropozäns prägt keine künstliche Intelligenz das Dasein, sondern fluide Körperlichkeit: “Körper verändern sich so schnell, von Generation zu Generation. Spezies verschwinden jeden Tag spurlos und neue kommen hinzu. (…) Was bin ich? Was bist du? Unsere Spezies haben alle keinen Namen.”
Wenn auch namenlos, sind diese Wesen doch sprachbegabt und drücken sich sogar gewandter aus als manche unserer Zeitgenossen. Das verleiht der Erzählung eine wohltuende Eleganz, zumal es darin um sehr kreatürliche Nöte und Bedürfnisse geht. Und der Ort, an dem diese posthumane Gesellschaft sich ihrer selbst versichert und ihre Ekstase feiert, ist überraschenderweise das Theater.
Die Zivilisation liegt zwar in Trümmern, aber das Theater lebt noch. Mehr noch: Es ist der sinnstiftende Fokus von Anemos, wo man es versteht, das ewige Thema von Werden und Vergehen in Rituale zu kleiden. Wie einst im antiken Griechenland, erfasst an bestimmten Feiertagen ein kultisches Spiel die ganze Stadt. Im Herbst wird getrauert, im Frühling triumphiert das Leben. Zu den Echos alter Mythen von Demeter und Persephone oder dem japanischen Mondkind Kaguya stellt sich der zentrale Mythos von Anemos selbst: die Geschichte von Oberons letzter Walpurgis.
Denn genau in der Walpurgisnacht starb Oberon, die Riesenqualle, die das verseuchte Wasser der Stadt entgiftete; wobei das genau genommen von Mikroorganismen besorgt wurde, denen Oberon als Wirtskörper gedient hat. Doch dann war Oberon tot, und schuld daran war das Müxerl.
Das Müxerl: ein kleines, im Wasser lebendes Tier, das wohltuende Sekrete absondert. Sein Name ist vom Myxozän geborgt, dem Zeitalter des Schleims – eine Idee des französischen Meeresbiologen Daniel Pauly -, in dem nur noch simple, aber robuste Lebensformen auf dem verwüsteten Planeten überdauern werden können.
Ohne das Müxerl geht es nicht mehr in Anemos: Denn nachdem es Oberon in einer Art Sexualunfall irrtümlich ums Leben gebracht hat, ist dessen Mikrobiom in den Körper des Müxerls übersiedelt. In Anemos gelten nur wenige Regeln; eine besagt: “Was du kaputt machst, musst du richten”, und somit muss nun das Müxerl an Oberons Stelle als lebender Wasserfilter dienen. Es könnte sich auch weigern, oder fliehen, oder sterben. Doch jedes Jahr auf Neue entscheidet sich das unscheinbare Schleimtier dafür, seinen Dienst an der Gemeinschaft weiterhin zu tun, als Darsteller seiner selbst im Rahmen eines Theaterfestes, das diesen Bund bestätigt und feiert.
Was in eine zünftige Katharsis der Festgemeinde mündet – denn Tanz und Lärm sind die besten Lebenszeichen. Was bleibt diesen verlorenen Kreaturen auch sonst als die Erlösung im Rausch, um die Schmerzen des Leibes zu ertragen und die Gewissheit, dass alles sterben muss und einem nichts bleibt als die Wut darüber. “Geh nicht in Frieden in die gute Nacht. Wüte, wüte, wenn das Licht erlischt. Aufbegehren sollst du, am Ende deines Tags.”
Diese Verzweiflung aus dem dunklen Herzen der Philosophie war auch den antiken Hellenen nicht unbekannt, als sie das Theater erfanden; den modernen Menschen ebenso. So fremdartig diese Welt auch ist, die dieser eigenwillige, ungemein faszinierende Roman uns zeigt: Sie ist von der unseren nicht ganz geschieden. Diese posthumanen Wesen sind doch erstaunlich menschlich.