Nationalkunst – Mozart war kein Österreicher

0
31

Wem gehört Ilja Repin? Der Ukraine, wo er geboren wurde? Russland, wo er Karriere machte? Oder gar Finnland, wo er von 1903 bis zu seinem Tod 1930 lebte? Nur, dass dieser Ort, damals Kuokkala mit Namen, heute Repino heißt und – zu Russland gehört. Wie ja auch die Ukraine zu Repins Lebzeiten Teil des Zarenreichs war.

Derzeit läuft im Kunstmuseum Basel die Schau “Born in Ukraine”, die längst überwunden geglaubte Fragen neu stellt.

In der schönen neuen Welt der Globalisierung spielten solche Fragen nationaler Herkunft bis vor kurzem nur noch in Kreisen von Nationalisten eine Rolle. Die EU lehrte ihre Bürger, dass Grenzen nur noch Linien auf Landkarten sind. Vor allem die Kunst sei international. Wer mit Länderzugehörigkeiten komme, wäre mit Sicherheit ein alter weißer Mann und als solcher ohnedies nur ein Thema für Spott und Häme und gewiss nicht ein Diskussionspartner in längst übereinstimmend geklärten Fragen.

Bis Wladimir Putin die Ukraine überfiel.

Seither zeigen die Zeiger der Uhren wieder auf Nationalität.

Geistige Landesverteidigung

Die Ukraine steht im Krieg. Dass es zur geistigen Landesverteidigung gehört, zwischen der eigenen Kultur und der Kultur des Feindes zu unterscheiden und diese nach Möglichkeit zu unterdrücken, ist verständlich, obwohl selbst im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien und den USA etwa die Werke Richard Wagners, des Idols des nationalsozialistischen Deutschland, und Giuseppe Verdis, des Aushängeschilds der italienischen Faschisten, gespielt wurden.

Man kann freilich nachempfinden, wenn der Ukraine die Jahrzehnte der jüngsten Geschichte mit der Trennung von Russland und schließlich dem Überfall Wladimir Putins näher liegen als die Jahrhunderte einer Zusammengehörigkeit, die sogar an der Wiege Russlands steht. Schließlich war das Kiewer Reich des Mittelalters das gemeinsame Samenkorn von Russland, Weißrussland und der Ukraine. Das ist ein historisches Faktum, an dem keine Propaganda rütteln kann.

Dementsprechend eng sind Kunst und Kultur beider Nationen miteinander verbunden. In der Literatur ist es am bezeichnendsten. Zwei Autoren, der eine Zeitgenosse des anderen, begründeten die russische Erzählkunst: Der Russe Alexander Puschkin orientierte sich an der fein ziselierten Formulierungskunst der französischen Literatur, während der Ukrainer Nikolai Gogol dem Volk, Russen wie Ukrainern, aufs Maul schaute und seine Erzähltechnik aus der gesprochenen Sprache entwickelte – bin hinein in typisch ukrainische Redewendungen.

Unbestreitbar ist auch, dass Kriegsparteien naturgemäß emotionalen Aufpeitschungen unterliegen. Solch ein Zustand gewährt Nationalismen breiten Raum. Für Reflexionen über Kunst und Kultur ist er denkbar ungeeignet.

Befremdlich wird es indessen, wenn andere Länder bereit sind, die die kriegerischen Auseinandersetzungen in das eigene Kulturverständnis zu übernehmen. Denn das öffnet Fragen nach kulturellen Identitäten Tür und Tor. Ist man bereit, Kunst nach Nationen zu klassifizieren und die Herkunft am Ende gar zum Schlüssel für eine Herzeigbarkeit zu erklären, landet man, gut meinend, im Niemandsland: Wonach definiert sich die Nation eines Künstlers? Ländergrenzen haben sich durch die Jahrhunderte verschoben, manche Länder sind in anderen aufgegangen.

Wer Ländergrenzen als Kriterium heranzieht, wie es die Ukraine-Schau in Basel suggeriert, landet im Chaos. Überhaupt muss zunächst geklärt werden, welche Ländergrenzen gelten sollen: Die gegenwärtigen oder die zu Lebzeiten des jeweiligen Künstlers?

Der Burgenländer als Ungar

Zöge man die zu Lebzeiten des Künstlers heran, wäre Wolfgang Amadeus Mozart Angehöriger des Fürsterzbischofstums Salzburg und Johann Sebastian Bach wäre kein deutscher, sondern ein sächsischer Komponist. Zöge man die gegenwärtigen heran, wäre Ungarns Musik-Heros Franz Liszt Österreicher aus dem Burgenland und Béla Bartók, ebenfalls ein Musikheiliger Ungarns, Rumäne.

Die Briten rekrutieren den gebürtigen Deutschen (Pardon: den gebürtigen Brandenburger) Georg Friedrich Händel für sich. Antonio Bibalo, der Protagonist unter den Opernkomponisten Norwegens, wurde 1918 in Triest geboren, das an diesem 18. Jänner noch zum K.u.k.-Staat Österreich-Ungarn gehörte. Am 19. Juni 2008 starb er als norwegischer Staatsbürger. Sein Vater war es gewesen, der den Namen italianisiert hatte, ursprünglich hieß er Bibalić. Er war Serbe. Hans Pfitzner, für die einen Vollender der Nachromantik, für die anderen verzopfter Deutschtümler, wäre, legte man die Maßstäbe der Basler Ausstellung an, Russe, denn er wurde in Moskau als Sohn eines dort engagierten deutschen Geigers geboren.

Mit Komponisten kann man nicht argumentieren, weil die, wie Joseph Haydn anmerkte, eine Sprache sprechen, die man auf der ganzen Welt kennt? – Also Schriftsteller: Joseph Conrad war – was? Pole der Geburt nach, Brite aufgrund seines Lebensmittelpunkts und der Sprache, in der er schrieb. Vladimir Nabokov war – Russe oder Amerikaner? “Die Gabe” ist auf Russisch geschrieben, “Lolita” auf Englisch. Der gebürtige Pole Marcel Reich-Ranicki galt als der deutsche Literaturpapst. Albert Camus war gebürtiger Algerier. Paul Celan wurde im damals rumänischen, heute ukrainischen Czernowitz geboren, war französischer Staatsbürger und gilt als (man greift zur Hilfskonstruktion) deutschsprachiger Lyriker.

Das “Born in” besagt in der sprachungebundenen Malerei noch weniger. Selbst der Spanier El Greco hieß nicht so, sondern wurde so bezeichnet, weil der Name des gebürtigen Kreters Domínikos Theotokópoulos nicht nur spanische Zungen vor gewisse Probleme stellt.

Ein Kunstkräftemessen

Wo Kunst und Kultur draufstehen, funktioniert Nationalismen hinten und vorne nicht. Längst haben auch die Migrationsbewegungen zum Verschwimmen beigetragen. Europa ist ein Schmelztiegel der Kulturen geworden. Neue soziologische Konzepte wie die Absage an “kulturelle Aneignung” sind Kopfgeburten, die in der Realität nicht funktionieren. Die vermeintlichen Aneignungen sind zu weit gediehen. Komponisten werden unabhängig von ihrer Hautfarbe weiterhin ursprünglich afrikanische und südamerikanische Percussion einsetzen und Blues-Harmonien verwenden, Maler und Schriftsteller weiterhin, ohne langes Hinterfragen der Statthaftigkeit, Themen verarbeiten, die in ihnen den kreativen Prozess auslösen, ohne nach den Ursprüngen des Materials zu fragen. Die Kultur schafft sich ihre eigene Nationalität.

Sobald aber die Herkunft der Kunst über den Geburtsort ihres Schöpfers einer Nation zugesprochen und davon eine Haltung abgeleitet wird, sollten die Alarmglocken läuten. “Born in Ukraine” ist auf den ersten Blick eine gute Idee. Doch wie weit käme man mit in allen Künsten ebenfalls gut bestückbaren Ausstellungen mit dem Titel “Born in Germany”, “Born in Austria” oder, grauenhafter Gedanke, “Born in Russia”? Dann nämlich ist man mittendrin beim unwillkürlichen Kunstkräftemessen: Sind in Österreich geborene Künstler den in Deutschland geborenen überlegen? Steht Puschkin höher oder Gogol?

Derzeit gilt vor allem eines: Man muss sich befreien von dem Stellvertreterkrieg in der Kunst. Wer die Werke Fjodor Dostojewskis liest und in die Oper zu den Werken Modest Mussorgskis geht, unterstützt keineswegs Wladimir Putin. Im Gegenteil: Er erfährt aus ihnen mehr über diesen Potentaten als aus sämtlichen Verboten und scheinbaren moralischen Appellen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein