Dass die Wege des Herrn mitunter unergründlich sind, ist bekannt. Etwas überrascht ist man dann aber doch, dass Altmeister John Cale sein in Rekordzeit ausverkauftes Wien-Konzert am Donnerstag im Porgy & Bess nicht nur mit einer Nummer eröffnet, die in seinem mächtigen Werkkatalog weniger als eine Nebenrolle einnimmt.
Nach der Standalone-Single “Jumbo In The Modernworld” von 2006 stellen sich auch bei Song Nummer zwei gewisse Befürchtungen ein. Immerhin kommt der melancholisch-versunkene Göttersong “The Endless Plain Of Fortune” aus Cales semi-symphonischem Meisterwerk “Paris 1919” von 1973 live mit dreiköpfiger Begleitband an Gitarre, Bass und Schlagzeug als trocken arrangierter Stromrockstampfer daher, der mit dem Original original nichts zu tun hat. Das wäre an sich nicht schlimm – würde das nur nicht bedeuten, dass etwa der in Erinnerung an David Bowie geschriebene Song “Night Crawling” aus dem heuer veröffentlichten neuen und mittlerweile 17. Soloalbum “Mercy” in der Live-Version samt slicken Funkbeigaben eher an Falco auf der Donauinsel erinnert als an John Cale, den Altmeister der Rock-Avantgarde.
Eine Instanz
John Cale hat an der Seite seines Lebensfeindes Lou Reed mit der von Andy Warhol protegierten Band The Velvet Underground und dem 1967 erschienenen Album “The Velvet Underground & Nico” in New York den Avantgarde-Rock erfunden. Er hat als klassisch studierter Musiker die Bratsche in die Rockmusik eingeführt, die Stooges und Patti Smith produziert und in seiner Solokarriere neben ergreifenden Balladen und forschem “Dirty Ass Rock n Roll” auch zahlreiche experimentell gehaltene Soundtracks und Ballettmusik geschrieben. Er hat zur Verarbeitung des Falkland-Krieges Gedichte von Dylan Thomas vertont und Leonard Cohens “Hallelujah” mit seiner Neudeutung zu später Gerechtigkeit verholfen. Tatsächlich konnte selten jemand mit dem Klavier als Waffe gefährlicher klingen als John Cale, der auf dem gleichen Instrument nur einen Song später wieder zu Tränen rührte.
Auf weitere Soloklassiker wie “Fear” (1974), “Slow Dazzle” oder “Helen Of Troy” (1975) folgte in den 1980er Jahren das schwer depressive “Music For A New Society” und ein Absturz in die Kokainsucht, von der ihn erst die Geburt seiner Tochter befreite. Heute gilt John Cale als Instanz, geläuterter Elder Statesman und gern gehörte (Gast-)Stimme, die nichts mehr beweisen muss – was sie manchmal allerdings trotzdem tut. Sehr hübsch etwa im Jahr 2020 das Aufeinandertreffen der Generationen mit dem Stück “Corner Of My Sky” seiner um knapp 50 Jahre jüngeren Landsfrau, der Elektronikmusikerin und Produzentin Kelly Lee Owens.
Im LSD-Design
Im Porgy & Bess sollte man sich aber auch nicht zu schnell täuschen lassen. Der demnächst 81-jährige Waliser, der das Konzert weitgehend sitzend an seinem Kurzweil-Keyboard bestreitet, spielt sich über alte Klassiker wie “Chinese Envoy” (1982), das später von Bauhaus gecoverte “Rosegarden Funeral Of Sores” (1980) oder das auf einer sonst bevorzugt mit psychedelischen Visuals im 70er-Jahre-LSD-Design bespielten Videowall von nostalgischen Archivaufnahmen begleitete aktuelle “Moonstruck (Nicos Song)” erst einmal warm.
Während das Titelstück von “Mercy” überraschenderweise als verschleppter Bedroomsoul daherkommt, wird es mit einer radikalen Dekonstruktion des Songs “Wasteland” aus dem 2005 veröffentlichten Album “blackAcetate” erstmals an diesem Abend aber so richtig stark – und endlich auch wieder gefährlich. Zu in Zeitlupe anschiebenden Synthiebässen, Drones, Noiseschleifen und einer jetzt mit dem Cellobogen gestrichenen E-Gitarre errichten John Cale und seine Band eine musikalische Kirche der letzten Tage, die als Soundtrack-Angebot für einen möglichen Film von David Lynch nichts weniger als Gänsehaut bereitet.
Filmisch fällt aber auch die aktuelle Interpretation von “Half Past France” aus, aus der sich im fließenden Übergang eine brüchige Plucker-Version von “Hanky Panky Nohow” schält, die dem melancholisch gefärbten Original auf ihre Weise gerecht wird. “Cable Hogue” mit John Cale an der Gitarre, das in Richtung Todes-Disco gebrachte “Villa Albani” als sprödes Tanzangebot und schließlich Elvis Presleys “Heartbreak Hotel” als freigeistig vertonter Fiebertraum runden einen musikalisch breit gefächerten Abend ab, der das Publikum am Ende begeistert hinterlässt.
Dass freilich bereits das Erscheinen John Cales für großen Jubel gesorgt hat, versteht sich angesichts seiner Bedeutung für die Rockgeschichte von selbst. Das Konzert war dann gewissermaßen die Kür – bei aller Luft nach oben da wie bei aller alten Grandezza dort.