Galerien – Marina Abramovic: Mut zum Hut

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Untertreibt Wikipedia da nicht ein bissl? Für das Online-Lexikon ist sie schließlich bloß “eine serbische Performance-Künstlerin mit internationalem Renommee”. Dabei ist, nein, ihr Renommee nicht intergalaktisch, aber sie ist “die” serbische Performance-Künstlerin mit internationalem Renommee (und Wohnsitz in New York), oder? Marina Abramovic. (No na. Wer sonst?)

Die Leute standen Schlange, um ihr gegenüber Platz nehmen zu dürfen für eine Partie Synchronschweigen bzw. Bockschauen. So geschehen 2010 während ihrer legendären Marathonsitzung “The Artist is Present” im Museum of Modern Art in New York, wo sie 1565 Museumsbesuchern quasi im Akkord wort- und reglos gegenübergesessen ist, Sitzfleisch und mentale Stärke bewiesen hat. Aktionismus als Stillleben. Eindeutig ein Star der Kategorie “Super” also, wenn nicht gar “Hyper” (zumal sich sogar Lady Gaga und Tilda Swinton bei ihr angestellt haben). Eine von den ganz Großen. 

Sich in die Unendlichkeit hineinbohren

Und in der Galerie Krinzinger, die mit ihr seit einem halben Jahrhundert zusammenarbeitet, zeigt sie jetzt noch mehr Größe, hat die 1946 in Belgrad als Tochter zweier Partisanen Geborene, die für Aktionen bekannt ist, die länger dauern und fordernder sind als jede Wagner-Oper, gleich noch einmal 1,20 Meter in der Vertikale zugelegt. Indem sie sich extrem spitze, lustige Hüte aufgesetzt hat. Keine High Heels, High Hats sozusagen. Die Wolkenkratzer unter den Hüten. Oder eher Transzendenzkratzer. Die die Unendlichkeit, in die sie sich hineinbohren, bzw. womöglich das Übernatürliche kitzeln.

Dasselbe in Gelb. In der Vitrine: die stieläugige “Energy Mask” von Marina Abramovic.

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Nicht, dass sie sich als Witzfigur oder als Spaßmacherin inszeniert hätte, die Abramovic. Als weiblicher Harlekin oder Pulcinella. Zumindest nicht vordergründig. Gut, eventuell hintergründig. Denn Humorlosigkeit kann man ihr hier wahrlich nicht unterstellen. Selber längst eine Ikone, macht sie in den ikonisch strengen Selbstporträts freilich wie gewohnt ein ernstes Gesicht, als ginge es um Leben und Tod. (Und irgendwie tut es das bei ihr ja immer. Um Leben und Tod gehen.) Nicht einmal ein sanftes Lächeln huscht ihr über die perfekt aufeinandergelegten Lippen.

Kaum jemand vermag so komische, regelrecht babylonisch aufgetürmte Kopfbedeckungen mit einer solchen Würde zu tragen (oder zu er-tragen?) wie sie. Geradezu priesterlich, ach was: Wie eine Päpstin. Mit geschlossenen und mit offenen Augen. Wobei einen ihr Blick selbst in ersterem Fall, während ihrer meditativen Introspektion, zu treffen scheint. Als würde sie durch ihre Lider hindurchstarren. “Jemand hat möglicherweise geblinzelt”, hat mich die Handykamera gewarnt, als ich einen Schnappschuss davon gemacht habe. 

Weil nicht alle Kamillenblütenträume reifen

Dank ihrer unglaublichen Präsenz (und fotografischen Allgegenwart) war sie so betrachtet bei der Vernissage sehr wohl anwesend. Okay, manche waren vielleicht trotzdem enttäuscht, als in der Badewanne voller getrockneter Kamillenblüten ein Mann gelegen ist. Allerdings können halt erstens nicht alle Knabenmorgen-Kamillenblütenträume reifen (frei nach Goethes Prometheus-Ode), zweitens war die Ausdauer des Performers durchaus beachtlich, nahezu abramovicesk (immerhin wird jede Entspannung spätestens nach ein paar Stunden anstrengend, wird sie zur Tortur), und drittens: Wer sagt, dass die Abramovic, auch wenn ihr die Ärzte nach der Lungenembolie kein Flugverbot auferlegt hätten, selber gebadet hätte?

Die Kamillenblüten nehmen ein Bad (nämlich in sich selbst): "Reprogramming Levitation Module (from Soul Operation Room)", 2000. Und jede Kupferwanne hat Marina Abramovic mit einem Quarz als Energiequelle ausgestattet. Im Hintergrund läuft das Video "Boat Emptying, Stream Entering" (2001). Vier Spitzhüte beschaulich in einem Ruderboot. 
- © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Die Kamillenblüten nehmen ein Bad (nämlich in sich selbst): “Reprogramming Levitation Module (from Soul Operation Room)”, 2000. Und jede Kupferwanne hat Marina Abramovic mit einem Quarz als Energiequelle ausgestattet. Im Hintergrund läuft das Video “Boat Emptying, Stream Entering” (2001). Vier Spitzhüte beschaulich in einem Ruderboot.

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Und das gleichmäßige Ticken in diesem “Kontemplationsbadezimmer”? Versetzt einen in Kombination mit dem intensiven Beruhigungsduft der Kamille fast in Narkose oder wenigstens in Trance. Und den Quarzkristall, der am einen Ende der jeweiligen Wanne baumelt (zwei Wannen sind’s insgesamt), hätte es um ein Haar zum Schmelzen gebracht, dieses Tick-Tack-Tick-Tack. Zunächst hab ich jedenfalls geglaubt, das wäre kein glasklares Mineral, sondern ein Stück Eis und habe tatsächlich einen Tropfen fallen sehen. Mineralwasser gewissermaßen. Pure Energie. Ein Energy-Drink, der die Kamillenblüten tränkt, “energetisiert”. 

Energie zum Aufsetzen

Bei den mit Seide überzogenen schlanken Kartonkegeln, die es in sieben Farben gibt (unter anderem in Rot, Gelb, Grün und Blau), handelt es sich übrigens um “Energy Hats”. Wie die “Energy Masks” (Augenbinden mit “Stielaugen”) bergen diese nämlich ein Geheimnis. Eine versteckte Energiequelle. Eine Powerbank in einer Geheimtasche? Zum Aufladen des Smartphones? (Weil Solarzellen hab ich keine bemerkt.) Falsch. Außerdem stammt das Konzept für die “Energy Clothes”, nach denen die (von Sydney Fishman kuratierte) Ausstellung benannt ist, bereits aus dem Jahr 2001. Und wie viele Menschen hatten damals schon ein smartes Mobiltelefon?

Marina Abramovic als Büglerin mit Hut: "Energy Hat (Ironing)", 2001/2023. 
- © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Marina Abramovic als Büglerin mit Hut: “Energy Hat (Ironing)”, 2001/2023.

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Kleine Magneten hat sie vielmehr eingebaut, die Marina Abramovic, in ihre energetischen Kleidungsstücke, die sie im Rahmen eines von ihr geleiteten Workshops in der Fondazione Antonio Ratti im italienischen Como entworfen und realisiert hat. (Um die Werkgruppe später, noch im selben Jahr, in Frankreich weiterzustudieren. In der Calder Foundation in Saché.)

Magneten: Ach, wie in der Magnetfeldtherapie? So ähnlich. Offenbar. Was nicht heißt, die 20 Jahre alten, nun für neue fotografische Interpretationen abgestaubten imposanten Spitzhüte wären zwangsläufig ein alternativmedizinisches Aspirin und sollen gegen Schädelweh helfen. Klarer im Kopf sollen sie machen. Fokussierter. 

Der Alltag ist eine Meditationsübung

Einerseits führt Abramovic sie (und die Stielaugenmaske) in ihren aktuellen “Andachtsbildern” feierlich und mit sakralem Pathos vor, während sie selbst in ein spirituelles Weiß entrückt ist, das sie mit der Aura des Heiligen umstrahlt, andererseits integriert sie die an sich unpraktischen Dinger ins tägliche Leben, hat sie bei Alltagsriten an (respektive auf): beim Zähneputzen, Blumengießen, Bügeln, in der Wanne, auf dem Klo. Macht aus den gewöhnlichen Handlungen Meditationsübungen, bewusstere Tätigkeiten, die Konzentration und Achtsamkeit verlangen.

Besser sehen mit Magneten auf den Augen: Marina Abramovic trägt beim Zähneputzen ihre "Energy Mask" (2001/2023). 
- © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Besser sehen mit Magneten auf den Augen: Marina Abramovic trägt beim Zähneputzen ihre “Energy Mask” (2001/2023).

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Na ja, sonst kippt einem wahrscheinlich das Stanitzel vom Haupt, das sich wie eine Antenne in höhere Sphären, ins Kosmische reinspitzt (und was ist ein Kegel anderes als eine runde Pyramide?), und das bei der Kontaktaufnahme mit dem, was da draußen und um uns herum ist, nicht einmal wie ein Partyhütchen mit einem Gummibandel gesichert wird. Nicht nur Leben und Tod folglich, Leben und Kunst genauso. Ein einzelner Hut, wenngleich er nicht unbedingt das Zeug zum It-Piece hat, schafft es eindrucksvoll, die banale Wirklichkeit surreal zu überhöhen. 

Den Wald vor lauter Hüten nicht sehen

Nicht weniger skurril sind die Videos, die einen reichlich mit Materialien und Notizen zu den “Energy Clothes” gefüllten Vitrinentisch umringen und in denen die Hüte im Rudel auftreten, sich Abramovics Schülerinnen und Schüler zu Tableaux vivants formieren, zu Lebendbildern, spitz behütet im Wald stehen (wie angewurzelt), sich auf Hockern vor einem Sonnenblumenfeld aufreihen oder steif in einer Wiese auf Feldbetten liegen. Wie eine absurde Gartenzwerge-Sekte.

Marina Abramovic tischt uns ihre Materialsammlung auf: Alles rund um ihre "Energy Clothes". Notizen, Fotos, mit Magneten "energetisierte" Objekte. An der Wand: Videos mit den "Energy Hats" in Aktion. 
- © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Marina Abramovic tischt uns ihre Materialsammlung auf: Alles rund um ihre “Energy Clothes”. Notizen, Fotos, mit Magneten “energetisierte” Objekte. An der Wand: Videos mit den “Energy Hats” in Aktion.

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Lediglich der eine oder andere schwankende Halm oder Hut oder ein vom Atem der Natur angehauchtes, sich im Wind wiegendes Blatt verrät, dass das bewegte Bilder sind, auf Monitoren, keine statischen in Leuchtkästen. Und die weniger ästhetisch als inhaltlich interessanten Zeichnungen zum Projekt? Die kinetische Energie der Kreativität hat sich sichtlich auf den Bleistift übertragen, der die Ideen daraufhin skizzierend zu Papier gebracht hat. 

Dem Publikum und sich selbst ausgeliefert

Ja, das Werk der Meisterin der mimikfreien Selbstbeherrschung mag über die Jahre “beschaulicher” geworden sein. Und esoterischer. (Speziell durch die ungenierte Edelsteinigung und Magnetisierung ihrer Kunst.) Um im Betrachter etwas auszulösen, ihn emotional oder intellektuell zu fesseln, zu packen, mitzureißen oder schlicht zu faszinieren, muss Marina Abramovic eben inzwischen nimmer ihr Leben riskieren wie in den 1970ern.

Marina Abramovic studiert ihre Energiehüte auf dem Papier. 
- © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Marina Abramovic studiert ihre Energiehüte auf dem Papier.

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

1974 etwa hat sie sich in “Rhythm 0” für sechs Stunden mit messianischer Opferbereitschaft ihrem Publikum ausgeliefert und im Vorhinein die volle Verantwortung dafür übernommen, was dieses mit ihr und den bereitgestellten Gegenständen (einer Rose, einer Feder, einem Parfum, Trauben, einem Skalpell . . . – lauter Sachen zum Lust- oder Unbehagenbereiten) anstellen würde; und am Ende hatte sie einen geladenen Revolver an ihrem Kopf.

Und mit Ulay, dem deutschen Frank Uwe Laysiepen, hat sie sich performativ gepaart wie das Yin mit dem Yang. Beinah bis zur Bewusstlosigkeit haben sich die beiden dualistisch ergänzt, haben sich 1977 in “Breathing in / Breathing out” den Atem geteilt, in den Mund des anderen aus- und aus diesem eingeatmet. Oder sie waren 16 Stunden lang Rücken an Rücken mit den Haaren zusammengebunden (“Relation in Time”). Schluss gemacht haben sie 1988 mit einer episch konzeptuellen Trennungsperformance auf der Chinesischen Mauer, nachdem sie je 2500 Kilometer aufeinander zumarschiert waren. 

Sich beruhigen bis zum Umfallen

Im Kabinett der Galerie erinnern Fotos in dramatischem Schwarzweiß dokumentarisch an vier frühe Solo-Aktionen, an physische und psychische Grenzerfahrungen und -überschreitungen, die bis heute an Schock- und Provokationspotenzial nichts eingebüßt haben. Mit dem Messer so schnell wie möglich zwischen die Finger der linken Hand stechen, bis man sich schneidet, und dann dasselbe mit dem nächsten Messer fortsetzen und dem nächsten und dem nächsten. Oder hintereinander zwei Psychopharmaka mit gegensätzlicher Wirkung schlucken. Erst eines gegen Katatonie, das (zumindest bei gesunden Performerinnen) die Muskeln unkontrolliert kontrahieren lässt, und nachher eines zur Besänftigung von ausrastenden Schizophreniepatienten, bis man keine Ahnung mehr hat, wo und wer man ist.

Das Wühlen im Archiv bringt nicht zuletzt die Kontinuität zum Vorschein. Die beharrliche Beschäftigung mit Körper und Geist. Mit Transformationsprozessen, mit der Zeit. Und ohne Energie geht sowieso nix. Die ist essentiell für jegliche Existenz. Auch für die künstlerische.

Blick in die Vergangenheit: Die Schwarzweißfotos dokumentieren Aktionen aus den 1970er Jahren. Rechts schreit sich Marina Abramovic heiser ("Freeing the Voice", 1975), links findet sie mit 20 Messern ihren Rhythmus ("Rhythm 10", 1973). 
- © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

Blick in die Vergangenheit: Die Schwarzweißfotos dokumentieren Aktionen aus den 1970er Jahren. Rechts schreit sich Marina Abramovic heiser (“Freeing the Voice”, 1975), links findet sie mit 20 Messern ihren Rhythmus (“Rhythm 10”, 1973).

– © Carmen Alber, Courtesy Galerie Krinzinger und Marina Abramovic

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