Galerien – Marielis Seyler: Das Leben holt sich den Tod

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Aber die Fotos sind ja zum Teil schon eingerissen, haben richtige Löcher. Oder sind total dreckig, voller Flecken, Erde, welker Blätter, wellen sich, nachdem sie sichtlich einmal nass geworden sind, ins Trockene hinein. Schauen ziemlich mitgenommen aus. Regelrecht “versandelt”. Eines liegt überhaupt einfach so auf dem Boden in der Lukas Feichtner Galerie herum. Nicht nur den Blicken des Betrachters schutzlos ausgeliefert, auch seinen schmutzigen Straßenschuhen. (Weil ein Schild “Bitte Schuhe ausziehen” oder “Betreten verboten” sucht man vergebens. Im Gegenteil. Betrampeln ist – unausgesprochen – sogar erwünscht.)

Skurrilerweise hat eine ausgebildete Restauratorin sie so zugerichtet, die Bilder, die “verwahrlosten” Exemplare. Mit voller Absicht. Im Teamwork mit ihrer kongenialen Assistentin, die in ihrem Garten in Neulengbach wohnt: mit der Natur. In Wahrheit sind das nämlich lauter existenzielle Liebesbezeigungen. 

Restauratorinnen haben mehr Fantasie

Mensch und Natur, Leben und Tod in konstruktiv zerstörerischer, zärtlich rabiater Symbiose. Das Leben holt sich den Tod und umgekehrt. Nicht von ungefähr trägt die von Günther Oberhollenzer kuratierte Schau den Titel “Verletzungen”. Um die gehe es bei ihr oft, meint die Marielis Seyler. Um Verletzungen “vom Gemüt, von Tieren, von der Natur”. Obendrein breitet sich ihre Fotografie (drum erweiterte Fotografie) ganz selbstverständlich und unbekümmert in die Collage, die Malerei, die Performance aus.

Schmetterlinge zertreten (man beachte die Schuhabdrücke): Das Trampelbild “Natur bedroht I”, 2023, von Marielis Seyler (ausnahmsweise ist die Unterlage ein C-Print) hat es an die Wand zurückgeschafft. Ist jetzt in Sicherheit.

– © Lukas Feichtner Galerie

Gesichter, menschliche und animalische Körper, Fell, nackte Haut, Pflanzliches, Landschaften. Intime Arbeiten in großen Formaten. Ruhige einpräg- und -einfühlsame Kompositionen, üblicherweise in analogem Schwarzweiß und keine Drucke, vielmehr die gute alte Fotoemulsion auf Barytpapier. Die 1942 in Wels geborene Fotokünstlerin, die die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien besucht hat, ist weit gekommen (bis nach Fernost, nach Japan, und in den fernen Westen, in die USA), viel herumgekommen, hat diverse Galerien geleitet (in Köln, in New York, in Wien), und irgendwann hat sie Restaurieren ebenfalls noch gelernt und hat nun “mehr Fantasie, was man tun kann”. Die Sujets beispielsweise außer mit Leimfarbe oder Pastellkreide mit Naturmaterialien (Tee, Saft, Wachs, Sägespänen, Rost . . .) überarbeiten. Mit Rost? Ja, den reibt sie aufs Bild. Wie Parmesan? So ähnlich. 

Weil man Plastik nicht auswildern kann

Um ein Open-Air-Bild herzustellen, wildert sie das Foto quasi eine Zeitlang aus, deponiert es auf der Wiese unter freiem Himmel. Überlässt es Wind, Wetter und den wilden Tieren, den Elementen, die sich mit dem, was sie ihnen hingelegt hat, auseinandersetzen. Blüten kommen dahergeflogen, Blätter herbeigeweht, feuchtes Laub färbt braun ab, Nadeln rieseln dazu.

Marielis Seyler ist "Im Bilde" (so der Titel ihrer Selbstporträt-Serie): "Oh, die Natur" (2023). Diese umschwirrt sie nämlich mit einem Wirbelwind aus Blättern und Zuneigung. 
- © Lukas Feichtner Galerie

Marielis Seyler ist “Im Bilde” (so der Titel ihrer Selbstporträt-Serie): “Oh, die Natur” (2023). Diese umschwirrt sie nämlich mit einem Wirbelwind aus Blättern und Zuneigung.

– © Lukas Feichtner Galerie

Und einmal hat “irgendein Viech” (Seyler) just das (fotografierte) Ei im (fotografierten) Vogelnesterl aufgerissen (“Das Nest”, 2002). Wird sich wohl ein Eierdieb (oder ein Geburtshelfer?) vom Schein des Echten täuschen haben lassen wie die Spatzen, die dereinst angeblich die gemalten Trauben aufpicken wollten, mit denen der anekdotenumwobene antike Maler Zeuxis sie gefüttert haben soll. He, wäre es nicht ein äußerst verlockender Gedanke, wenn aus dem abgelichteten Ei etwas geschlüpft wäre? Weil das Abbild auf sich selbst reingefallen ist?

Die Notizen, Spenden, Spuren der Natur werden am Ende gewissenhaft fixiert, werden festgeklebt oder festgesprüht (“dass es nicht verrutscht”), erzählen von einer vulnerablen Umwelt, die bei aller Verwundbarkeit eine unglaubliche Robustheit demonstriert. Das Motiv trotzt wacker seiner Auslöschung. “Ich muss den Moment erfassen, wo es noch sichtbar ist und schon anfängt, in die Natur überzugehen”, erklärt Seyler. Weshalb sie keinen Plastiksessel fotografieren könne. Nix schwer Verrottbares, Künstliches eben. 

Allein gegen die Einsamkeit

Nur ein paar Blätter schauen vorbei: Marielis Seyler ist "Einsam" (2023). 
- © Lukas Feichtner Galerie

Nur ein paar Blätter schauen vorbei: Marielis Seyler ist “Einsam” (2023).

– © Lukas Feichtner Galerie

Ein totes Reh, das eines unnatürlichen Todes gestorben, sprich vom Auto überfahren worden ist, hat sie dafür kurzerhand in die Natur zurückgebracht, auf dass diese es absorbiere. Nein, nicht den Kadaver selbst hat sie retourniert, sondern das Foto, das sie von ihm gemacht hatte. Die Idee dahinter war, dass das Reh ja nicht verwesen kann, “da auf der Straße”, auf dem Asphalt, der den Boden versiegelt und mit dem der Mensch den Lebensraum des Unfallopfers zerstückelt hat.

“Ich leide mit den Viechern”, bekennt Seyler, die bereits einen von einem Jäger erlegten Hasen mit Verbänden und Pflasterln verarztet und seine Wunden mit Bronze und Wachs versorgt hat oder 1994 einen leblosen Vogel mit transparenter roter Farbe resolut gekreuzigt hat (“Vogelkreuz”); bzw. hat sie ihn mit einem breiten Pinsel für tot erklärt. Oder gesegnet? (“Kannst du interpretieren, wie du willst.”)

Stark und berührend: die Selbstporträts. Entstanden, als die Künstlerin infolge eines Beinbruchs gehandicapt war. Da kauert sie daheim auf der Stiege oder rollt sich auf dem Boden zum Fötus zusammen, zur pränatalen Geborgenheit, verkörpert das Gefühl der Einsamkeit, das Alleinsein in der eigenen Privatsphäre. “Valoss’n, valoss’n, valoss’n bin i, wia a Stan auf da Stroߒn . . .”, intoniert hier gleich der Trachtenchor in meinem Schädel das traurigste aller Kärntnerlieder. Die Natur spendet Trost mit einer Handvoll Blätter, besucht die Rekonvaleszente. Zum vereinzelten Ich gibt’s zudem unsichtbar ein Du. Das auf den Auslöser gedrückt hat: die Haushaltshilfe. Und wenn nah ans Gesicht herangezoomt wird, war’s Seylers Ehemann. 

Der Mensch ist ein Trampeltier

Insgeheim Doppelporträts mit der Botanik, weil im Grunde ist sie fast immer zu zweit auf dem Bild, die Marielis Seyler. Herbstliche Blätter wirbeln um ihren Kopf herum wie eine Aura, ein veganer Nimbus. Eine kleine Armee von Bodyguards. Hinter beredten Gesten, die zwischen Defensive und Kommunikation changieren, geht die Physiognomie in Deckung. (“Du musst dich schützen, aber du musst auch kommunizieren.”)

Keine Selbstgespräche in Gebärdensprache, Seyler unterhält sich nonverbal mit dem Publikum. Wehrt schlammige Tritte ab (“Nicht treten”, 2023), Schuhabdrücke, bei denen die Künstlerin (“Es war nicht genug Schmutz drauf”) mit Erde nachgeholfen, diese aufs Bild gesiebt hat. “In Zeiten wie diesen”, sagt sie, “da wirst ja dauernd getreten.”

Trittfest: Die Künstlerin muss sich gegen das Trampeltier Mensch wehren. "Nicht treten" aus der Serie "Im Bilde", 2023 (Fotoemulsion, Erde und Sonstiges auf Barytpapier). 
- © Lukas Feichtner Galerie

Trittfest: Die Künstlerin muss sich gegen das Trampeltier Mensch wehren. “Nicht treten” aus der Serie “Im Bilde”, 2023 (Fotoemulsion, Erde und Sonstiges auf Barytpapier).

– © Lukas Feichtner Galerie

Eines von ihren “Trampelbildern”? Die das Bewusstsein dafür schärfen sollen, worauf man im Alltag gedankenlos herumtrampelt, was man mit Füßen tritt? Kein klassisches jedenfalls. Zumal dessen Schöpferin den Schuh in der Hand gehabt hat und nicht am Fuß. Ursprünglich stammt der Brauch des Bild-Tretens allerdings aus dem Japan der Edo-Zeit und der brutalen Christenverfolgungen. Eine Probe war das. Wer nicht auf ein Heiligenbildchen drauftreten wollte, so Seyler: “Rübe ab!” 

Plötzlich wirft sich einem ein Bild zu Füßen

Geadelt von einem Kohlblatt: Marielis Seylers majestätische "Kohlkönigin" (1992). 
- © Lukas Feichtner Galerie

Geadelt von einem Kohlblatt: Marielis Seylers majestätische “Kohlkönigin” (1992).

– © Lukas Feichtner Galerie

Und was für ein Test ist der Frauenakt in Embryonalstellung, der einem als Fußabtreter in den Weg gelegt wird? (Ausnahmsweise ein abfotografiertes Foto, die Fotografie einer Fotografie, deren fragile Blässe vom empfindlichen seidigen Transparentpapier herrührt.) Ein psychologisches Experiment vielleicht? Wie das von diesem Stanley Milgram, das eine erschreckende Autoritätshörigkeit zu Tage gefördert hat? Nämlich waren die Versuchspersonen selbst dann bereit, die Anweisungen des Versuchsleiters zu befolgen, wenn sie eigentlich Bedenken hatten, weil sie immerhin anderen Probanden, die freilich in Wirklichkeit Schauspieler waren, bei falschen Antworten Stromschläge verabreichen mussten. Warum sie so willig mitgemacht haben? Weil der, der sie dazu aufgefordert hatte, einen weißen Laborkittel angehabt hat.

Und bloß, weil eine Künstlerin (“Ein Bild auf dem Boden ist was anderes als eins an der Wand”) einen dazu anstiftet, auf eines ihrer Werke draufzusteigen, tut man das. Wird man zum Täter. Mittäter. Mitläufer. In Kaffeehäusern kann es sogar passieren, dass plötzlich Kaffee oder Wein vergossen wird und das Trampel- zum Schüttbild mutiert. Seyler: “Die Leute kommen in einen Rausch. In einen Zerstörungsrausch.” Und was hat es jetzt zu bedeuten, wenn ich bloß deshalb Hemmungen habe, auf eine ängstliche oder frierende Nackerte zu treten, weil das ein Stück Kunst ist? 

Kresse in der Fresse

In immer neuen höchst ästhetischen Bildern beschwört Seyler die innige ambivalente Beziehung des Menschen zur bedrohten Natur, deren Teil er ist. Zwei, die sich gegenseitig nähren (und piesacken). In “grass & dreams” (2003) flechten sich Kresse-Keimlinge in die Augenbrauen und sprießen aus einem offenen Mund, der zum Blumentopf wird. Die romantische Naturverbundenheit gerät zum Albtraum. Fruchtbarkeit als Knebel, an dem man ersticken kann. Kresse in der Fresse. Ein stummer grüner Schrei? Ein Hilferuf?

Einblick in den ersten Raum der Lukas Feichtner Galerie und in die Ausstellung "Verletzungen" von Marielis Seyler. Auf der linken Wand haben Mensch und Kresse eine sehr innige und intensive Beziehung ("grass & dreams", 2003), rechts ist ein Open-Air-Bild ("Das Reh", 2018) aus der Natur in die Kunst zurückgekehrt. 
- © Lukas Feichtner Galerie

Einblick in den ersten Raum der Lukas Feichtner Galerie und in die Ausstellung “Verletzungen” von Marielis Seyler. Auf der linken Wand haben Mensch und Kresse eine sehr innige und intensive Beziehung (“grass & dreams”, 2003), rechts ist ein Open-Air-Bild (“Das Reh”, 2018) aus der Natur in die Kunst zurückgekehrt.

– © Lukas Feichtner Galerie

Die Natur ist weiblich. (Natur, die.) Die Landschaft genauso. Wie im Island-Zyklus “Stillness” (2001), wo sich in einer imposant unwirtlichen Ödnis eine Frau in eine weiße Stoffbahn wickelt, deren schier endlos lange lose Enden die schwarze, gleichsam misanthrope Wüste durchmessen. In einen schützenden textilen Kokon verpuppt sie sich, die Protagonistin. Und in die gewaltige Stille. Ein markantes Verschmelzen.

Eine Unbekleidete wiederum ist entblättert und ist es nicht, kokettiert mit dem riesigen Blatt einer Bananenpalme und mit der eigenen Scham, während die “Kohlkönigin” (1992) majestätisch und in dramatischem Helldunkel ein gewöhnliches, geradezu plebejisches Kohlblatt trägt. Sehr poetisch und persönlich. (Gilt für alle gezeigten Werke.)

Weibliche Landschaft: In Marielis Seylers eindrucksvoller Serie "Stillness" (2001) verbindet sich die Frau markant mit der imposanten isländischen Kargkeit. ("Quergelegt.") 
- © Lukas Feichtner Galerie

Weibliche Landschaft: In Marielis Seylers eindrucksvoller Serie “Stillness” (2001) verbindet sich die Frau markant mit der imposanten isländischen Kargkeit. (“Quergelegt.”)

– © Lukas Feichtner Galerie

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