Erfolgsroman – Als das Internet noch unschuldig war

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Mit ihrem Roman “Tomorrow, tomorrow, tomorrow” stand Gabrielle Zevin im vergangenen Jahr auf jeder englischsprachigen Literatur-Bestenliste. Nun ist “Morgen, morgen, und wieder morgen” auf Deutsch erschienen (Bastei Lübbe). Die US-Autorin erzählt von einem Freundespaar, das sich an der Uni zum Videospielentwicklungsteam zusammenschließt – zu einem perfekten Zeitpunkt, Ende der 1990er. Mit der “Wiener Zeitung” sprach Zevin über ihr erstes Computerspiel, warum man bei Spielen etwas über die Weltgeschichte lernen kann und wieso man sich heute nicht mehr neu erfinden kann.

“Wiener Zeitung”: In Ihrem Buch geht es um Videospiele als Erzählform, die gerne unterschätzt wird. Wie sind Sie darauf gekommen?

Gabrielle Zevin: Ich gehöre der ersten Generation an, die als Kind Computerspiele gespielt hat. Das ist so eine junge Kunstform, und sie hat so eine faszinierende Entwicklung hingelegt. Ich bin nur wenig jünger als das Spiel “Pong” (eine Art minimalistisches Tischtennis, 1972 kreiert, Anm.) und das bestand buchstäblich aus zwei Strichen und zwei Punkten. Und heute hat man Spiele wie “The Last of Us” (2013 erschienen), das praktisch wie ein Film aufgebaut ist.

Was war denn Ihr erstes Computerspiel?

Mein Vater war Computer-Programmierer und deshalb waren meine ersten Spiele vorinstalliert auf Geräten, die er von der Arbeit mitbrachte. Von denen habe ich am meisten “Alley Cat” geliebt. Da musste eine Katze über Mülltonnen hüpfen, um in ein Gebäude zu kommen. Jedes Fenster des Gebäudes hatte ein eigenes Minispiel zu bieten, in jedem Fenster eröffnete sich eine neue Welt.

Sind Computerspiele in gewisser Weise Vorhersagen über die Zukunft des technologischen Fortschritts?

Mich interessiert an Videospielen, dass sie eine Schnittstelle von Kunst und Technologie sind. Wir alle wissen, wie sehr wir uns in den vergangenen 30 Jahren verändert haben, also zum Beispiel kann keiner mehr irgendwohin finden, ohne dass uns das Handy die Richtung ansagt. Aber es ist schwer, ein visuelles Äquivalent für diesen Wandel zu finden. Außer in Videospielen: Da ist der Wandel sehr anschaulich. Wenn mir Menschen abschätzig sagen, sie spielen keine Computerspiele, dann frage ich immer, okay, und wie viele Stunden warst du diese Woche auf Instagram oder Facebook? Wer auf Sozialen Medien ist, nimmt an einem Spiel teil. Du kreierst eine Person, einen Charakter, du sammelst Likes – sehr viel an dem, wie die meisten normalen Menschen das Internet erleben und nützen, ist wie ein Spiel aufgebaut.

Funktionieren die Sozialen Medien so gut, weil sie unseren Spieltrieb ausnützen?

Viele Soziale Medien sind nach dem Prinzip der Einarmigen Banditen in Las Vegas konstruiert – sie schauen, dass sie deine Anwesenheit, dein Engagement verlängern. Das ist okay, wenn man weiß, dass man ein Spiel spielt. Ich denke halt, dass das hier den meisten nicht bewusst ist. Man muss bedenken, im Umgang mit dem Internet sind wir vergleichsweise noch sehr jung. Ich glaube, wir haben noch nicht ganz herausgefunden, was die beste Art und Weise ist, online Mensch zu sein. Aber es gibt auch positive Beispiele, etwa die App Duolingo, mit der man Sprachen lernen kann. Die arbeitet damit, dass Menschen eher bereit sind, zu lernen, wenn es sich wie ein Spiel anfühlt.

Die sogenannte Gamification als Hilfestellung bei Bildung, aber auch etwa bei Produktivität, ist ein großer Trend. Versimpeln wir uns da?

Ich denke, das ist kein unreifer Impuls. Das sind Lernsysteme, die denen ähneln, wie wir sie als Kinder hatten, und da haben sie nicht umsonst funktioniert. Ganz nebenbei, ich kenne Menschen, die haben fast alles über Weltgeschichte vom Spiel “Sid Meier‘s Civilization” gelernt. Es ist dumm, zu glauben, dass man aufhören muss zu spielen, sobald man erwachsen ist.

In Ihrem Buch gibt es auch eine philosophische Debatte, ob Sterben im Computerspiel weniger schlimm ist als im echten Leben. Als Spielfigur kann man zwar immer wieder auferstehen, aber das Leben hat auch weniger Wert…

Mich hat interessiert, wie sich für Menschen, die mit Videospielen aufgewachsen sind, die Sicht auf Sterblichkeit geändert hat. Ich habe dann festgestellt, dass das echte Leben ohnehin nicht so anders ist als das Videospiel: Wenn man jeden Tag aufsteht und jeden Tag eine neue Chance hat, hat man tatsächlich viele Spiele vor sich – bis keine mehr übrig sind. Und ja, Videospiel-Leben sind billig, eine neues im Donkey-Kong-Automaten kostet 25 Cent, das ist ein wirklich guter Preis!

Kein Videospiel-Gespräch ohne Frage nach der Gewalt, die etwa sogenannte Egoshooter auslösen können oder nicht. In Ihrem Roman wird das Thema auch aufgegriffen, wie stehen Sie dazu?

Ich bin da ganz auf der Seite der Figur Marx, die das ja unmittelbar betrifft. Er sagt: “Echte Gamer töten keine echten Menschen.” Es gibt keine Studien, die zeigen, dass Gewalt-Videospiele zu Gewaltaktionen im realen Leben führen. In den USA ist das meistens ein politischer Schachzug, wer so etwas behauptet, will verschleiern oder ignorieren, wo das wahre Problem liegt und das ist die Reglementierung von Waffenbesitz.

Ihr Buch fängt das Lebensgefühl der End-1990er sehr schön ein…

Ich empfinde das als eine wirklich unschuldige Zeit. Ich kam 1995 nach Harvard und damals kam das Internet in die Studentenzimmer, es war das erste Jahr, in dem es E-Mails gab. Das Internet war noch voller Möglichkeiten. Plötzlich konnte man jedes Buch zu jeder Zeit haben! Wir wussten noch nichts von den negativen Folgen, dass das irgendwann unsere stationären Geschäfte und unsere Kleinstädte zerstören würde. Es gab ein Chatprogramm namens Prodigy, da konnte man mit anderen Nerds schreiben, und die Menschen waren immer die, die sie gesagt haben, dass sie sind. Es war auch die letzte Phase, in der nicht jeder ein Handy hatte. Als ich ins College gekommen bin, weit weg von zuhause, gab es kein Social Media, keine Telefonnummer. Das war sehr befreiend, ich konnte mich wirklich neu erfinden. Ich finde es ein bisschen traurig, dass das wegfällt heute. Man ist für immer googlebar, man ist immer der-/dieselbe, man kann irgendwie gar nicht mehr loswerden, was man nicht sein will, was andere Menschen denken, wie man ist oder sein soll. Für mich war das ein wichtiger Teil des Erwachsenwerdens. Wenn man damals etwas über einen alten Freund herausfinden wollte, dann hat man angerufen und geredet. Heute google ich den, lese nach und melde mich dann nie bei ihm. Wie wir Freundschaft erleben, hat sich massiv verändert.

Die Serien-Adaption des Spiels “The Last of Us” (zu sehen auf Sky) ist derzeit ein Riesenerfolg. Auch in Ihrem Roman dient das Spiel als Inspiration…

Das ist ein wichtiges Spiel, es geht zwar vordergründig um Zombies, aber eigentlich ist es ein Roadtrip durch eine postapokalyptische USA. Es ist ein wunderschönes Spiel über das Ende der Welt. Ich mag es nicht so gern, wenn ich viel schießen muss, ich mag lieber die Teile eines Spiels, die sich anfühlen, wie wenn man einen richtig guten Roman liest. Und “The Last of Us” erinnert da an russische Literatur. Mich wundert überhaupt nicht, dass die Serie toll geworden ist!

Bisher waren Videospieladaptionen nicht unbedingt am Olymp der Filmkunst…

Es liegt oft daran, dass sich die Filmform nicht so gut eignet für die Adaption von etwas, woran man 15 Stunden spielt. Da geht einfach viel verloren. Und ich denke, viele haben auch nicht verstanden, wie man das einfängt, was Menschen an Spiele bindet, und das sind Charaktere und Geschichten. Nicht der typische Gang einer Figur.

Die Entwickler in Ihrem Roman werden berühmt mit einem Spiel, das Versatzstücke aus der asiatischen Kultur vereint. Heute ein Fall von Kultureller Aneignung?

Ich wollte darüber schreiben, dass es möglich ist, dass man vor 30 Jahren mit etwas im Recht war, womit man 30 Jahre später nicht mehr im Recht ist. Die beiden kamen damals gar nicht auf die Idee, dass es nicht okay sein könnte, diese Dinge, die sie aus anderen Kulturen lieben, zu verwenden. Also wenn man anfängt, jedes Kunstwerk retrospektiv zu beurteilen, dann wird das nicht funktionieren.

Limitiert diese schwelende Aneignungsdiskussion die Kreativität?

Manchmal führen diese Diskussionen pragmatisch gesehen ins Nichts: Wenn wir nur mehr uns selbst beschreiben, klingt das nicht gut für mich. Ich kenne niemanden, der so ist wie ich, ich bin buchstäblich die einzige koreanisch-jüdische Person, die ich kenne. Wenn ich nur über mich schriebe, wäre das eine sehr kleine Referenzgruppe. Allerdings muss ich auch sagen, dass diese Debatten mir erst den Mut gegeben haben, mich selbst in mein Schreiben einzubringen. Also, auch wenn ich vieles, was da an Aufregung geschieht, ablehne, habe ich doch für meine eigene Arbeit profitiert.

In Ihrem Buch kommt auch Ihre Vorliebe für Deutsch zutage…

Ich habe deutsche Wörter schon immer geliebt! Selbst, wen man sie falsch versteht, tragen sie eine Wahrheit in sich. Ich habe etwa im Roman “Zweisamkeit” falsch definiert, ich dachte mindestens 20 Jahre lang, es bedeutet, sich alleine zu fühlen, obwohl man zu zweit ist. Das gefällt mir immer noch besser. Ich kann nicht wirklich Deutsch, nur so Sätze wie: “Die Eule ist schön.” Aber ich liebe es, komplizierte Wörter zu sammeln.

Davon haben wir ja einige…

Ja, sogar die besten, würde ich behaupten! (lacht)

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