Wo Schneemassen talwärts stürzen, bleibt meist nur eine Spur der Verwüstung. Lawinen zerstören Gelände und Häuser, begraben alles Leben unter sich. Der Mensch ist dieser Naturgewalt ohnmächtig ausgeliefert; dennoch fordert er sie nicht selten freventlich heraus. Ob unausweichliches Schicksal oder Folge menschlicher Vermessenheit, Lawinen haben, bei aller Zerstörungskraft, auch die Anmutung des Erhabenen – und ein starkes metaphorisches Potential.
Der mehrfach ausgezeichnete Autor und Performancekünstler Robert Prosser (Jahrgang 1983) schöpft aus diesem Potential. Er verortet den Roman “Verschwinden in Lawinen” in seiner Tiroler Heimat. Zwei junge, draufgängerische Skifahrer lösen eine Lawine aus und werden verschüttet. Das Mädchen namens Tina wird schwer verletzt geborgen. Nach Noah, ihrem Freund, wird noch verzweifelt gesucht.
An der Suchaktion beteiligt sich auch Xaver, dessen Großvater Jahre zuvor auf demselben Berg verschwunden war. Der alte Mann konnte nur noch tot geborgen werden. Sein Leben hinterließ kaum Spuren, gerade einmal ein Jesus-Bild, eine Zither, einen Atlas und Bücher über Wüsten und Meere: “Vielleicht war jeder dieser Gegenstände für sich allein eine Silbe, gemeinsam jedoch ergaben sie eine Art Zauberspruch, um den Menschen, der einmal ihr Eigentümer war, auferstehen zu lassen”, sinniert der Enkel.
Keine Luft mehr
Xaver gibt den traurigen Helden des Romans. Er arbeitet als Koch im größten Hotel des Dorfes, gelegentlich hilft er am Skilift aus oder als Schlachter auf Bauernhöfen. Der quälende Gedanke, bei der Suche nach dem geliebten Großvater einst versagt zu haben, wird zur Obsession. Daran vermag auch der Drogenkonsum im Freundeskreis nichts zu ändern.
Womöglich hätte ihm Mathoi, der Einsiedler auf dem Berg, doch die Fährte zum vermissten Ahn legen können. Mathoi scheint über magische Kräfte zu verfügen. Und in einer entlegenen Bergwelt, wo die Menschen stets auf sich selbst gestellt waren, setzt so mancher immer noch auf die Wunderkräfte der “Anheber”, wie man diese Gurus hier nennt. “Ist kein Hokuspokus (…), sondern Volksmedizin”, meint Xavers Mutter, die mit dem Kauz deutlich sympathisiert. “Hat mit Gebeten zu tun und ist gratis.”
Das Verschwinden ist das eigentliche Thema in Prossers Roman. Die Lawine selbst schildert er eingangs gerade mit einem Satz: “Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.”
Zunächst geht es um Grenzüberschreitung. Noah und seine Freundin Tina haben den Berg herausgefordert; ihre Vermessenheit ist berüchtigt: Für eine ideale Spur würden die beiden in jeden Hang einfahren, heißt es im Dorf.
Hochmut hat ihren Preis, das erzählt die Literatur seit alters her. Der Autor verdoppelt das Motiv der Hybris: Xaver hält den Suchtrupp der Dorfgemeinschaft für unzureichend. Um seine Schuldgefühle gegenüber dem Großvater zu kompensieren, will er diesmal alles richtig machen: “Für kurze Zeit wäre er ein Held.” Wild entschlossen, nimmt er die Suche nach Noah selbst in die Hand – und verliert dabei jegliches Maß.
Das Verschwinden in Lawinen hat in jüngerer Zeit drei weitere heimische Autoren inspiriert: Der Vorarlberger Musiker Reinhold Bilgeri legte seinem (verfilmten) Roman “Der Atem des Himmels” die reale Lawinenkatastrophe von 1954 im Großen Walsertal zugrunde. Der ebenfalls aus Vorarlberg stammende, vor vier Jahren verstorbene Autor Gerhard Jäger nahm den realen Tiroler Katastrophenwinter von 1951 als Grundlage für den Roman “Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod”. Und als Christoph Ransmayr zwei irische Brüder in die mythischen Höhen des Himalaya – und einen der beiden in den Lawinentod – schickte (im Roman “Der fliegende Berg”), wurden unweigerlich Erinnerungen an den tragischen Bergunfall von Günther Messner wach.
Prossers Figuren hingegen verschwinden keineswegs nur in Schneelawinen: Großvater Konrad hatte den Berg aus freien Stücken gewählt, weil ihm das Dorf bloß ein Dasein als Knecht zubilligte. Auch Konrads Tochter Anna findet in der Dorfgemeinschaft keinen rechten Platz; der Alkohol löst keine Probleme, dafür ihre Ehe. Anna verabschiedet sich auf den Berg und lebt in einer Hütte unweit von Mathois Verschlag: “Irgendwann gehen dir die Möglichkeiten aus, glücklich zu werden”, erklärt sie dem Sohn, “und bevor es so weit ist, versuch ich es lieber hier.” Xaver wiederum träumt sich fort in ein kulturvolles Schauspieler-Dasein, verkommt im Dorftheater aber nur zur traurigen Lachnummer.
All diesen Figuren ist eines gemein: Ihr Verschwinden, und sei es bloß erträumt, bedeutet den Rückzug aus einer abweisenden, rohen Dorfgesellschaft. Der soziale Druck gleicht einem Schneeballeffekt; er droht alles und alle niederzuwalzen, gleich einer Lawine. Er nimmt die Luft zum Atmen.
Entfremdete Heimat
Damit schreibt Robert Prosser zugleich die österreichische Tradition des Anti-Heimatromans fort. Wie seine Zunftgenossen Reinhard Kaiser-Mühlecker, Helena Adler oder Dominik Barta erzählt auch Prosser von alten Familiendramen und noch älteren Sitten und Mythen; von verletztem Ehrgefühl, von Entfremdung und von Flucht. Er zeigt eine längst welkende Archaik im Konflikt mit der stetig vordringenden “Moderne”, etwa dem EU-Recht oder der “Urlaubsindustrie”.
Sein Dorf bleibt ohne Namen, die Handlung ohne Jahreszahl. Details verweisen jedoch auf das Alpbachtal – und auf die Gegenwart. Die abrupt wechselnden Zeitebenen wie auch die Zuordnung von Figuren zu Schauplätzen fordern dem Leser zuweilen erhöhte Konzentration ab, tun der Spannung aber keinen Abbruch.
Das Romanende ließe eine zweite Lesart zu. Vorausgesetzt, man sähe – wie der verzweifelte Held – die Lichter des Dorfes “als ein warmes, winziges Leuchten in der beginnenden Nacht”.