Als ihm der neue Volontär zugeführt wurde, hämmerte Thomas Pluch, stellvertretender Chefredakteur der “Wiener Zeitung” und Leiter der Lokalredaktion, gerade mit zwei Fingern in schneller Abfolge auf die langhebelige Tastatur einer schon damals vorsintflutlichen Schreibmaschine ein. Er war über die Unterbrechung nicht erfreut, denn er hatte gerade ein Drehbuch in Arbeit.
Dornröschenschlaf
Erst später fand der in Ehrfurcht erstarrte Volontär heraus, dass er einen berühmten Autor vor sich hatte, den Schöpfer der Kärnten-Saga “Das Dorf an der Grenze”. Die Fernsehspiel-Serie sorgte weit über das Bundesland hinaus für Aufregung, rief wegen ihrer vorgeblichen Freundlichkeit der slowenischen Minderheit gegenüber den Kärntner Heimatdienst auf den Plan, versetzte die Landespolitik unabhängig von allen Couleurs in Rage (die Blauen natürlich ganz besonders) und ließ Morddrohungen aus dem Fernschreiber quellen.
Solche Aufregungen hatte der Redaktionsalltag in den frühen 80er Jahren des verwichenen Jahrhunderts nicht oft zu bieten. Die “Wiener Zeitung” befand sich in einer Art Dornröschenschlaf, wurde weitgehend fehlerfrei, aber eher lustlos produziert. Der neutrale, entspannte Duktus, den Karl Kraus einst als “ausgewogen bis zur Unkenntlichkeit” beschrieb, machte die Zeitung schon damals sympathisch, während der Kampagnenjournalismus des österreichischen Boulevards von einem Tiefpunkt zum nächsten steuerte.
Der Produktionsprozess war indes deprimierend unglamourös. In der Redaktion, die damals zwölf Köpfe zählte, stand auf jedem Schreibtisch ein Glas mit Flüssigkleber und Pinsel. Damals lief im ORF noch die Sendung “Wer bastelt mit”. Wir hätten da ohne Weiteres einen Gastauftritt absolvieren können. Agenturberichte und Manuskripte wurden zerschnitten, um eigene Absätze ergänzt, die Papierschnipsel anschließend zusammengeklebt. Die redaktionelle Tagesarbeit war durchwirkt mit Bastelstunden, und manchmal fielen sie so selbstvergessen aus, dass man mit verklebten Fingern die Redaktion verließ. Der Begriff “journalistisches Handwerk” war durchaus wörtlich zu verstehen. War das Manuskript einmal gebastelt, ging es in die Setzerei. Dort saß ein Setzer an einer fauchenden Linotype-Maschine, tippte blitzschnell den Text ein, der dann, in Blei gegossen, vom Metteur zeilenweise im Setzkasten untergebracht wurde. War der Text zu lang, wurde beim letzten Punkt gekürzt, eine Vorgangsweise, die serienweise Pointen killte.
Es war eine glückliche Fügung, dass Thomas Pluch nicht Chefredakteur unseres Blattes wurde. Er war ein Mann der Kultur, wirklicher Hofrat und als Journalist eine schillernde Erscheinung, die von Widersprüchen in dialektischer Bewegung gehalten wurde: Eingeschworener Beamter mit Diensteid und freigeistiger Künstler, Liebhaber bester Küche mit einer leidvollen Sehnsucht nach Schlankheit. Liberal in seiner Gesinnung, dennoch bisweilen streng als Chef. Politisch eindeutig links verortet, aber von konservativ-bürgerlichem Habitus, standesbewusst, von hohem sittlichem Ernst, sich selbst durchaus selbstironisch konterkarierend. Eleganz im Ausdruck war ihm eine Herzensangelegenheit, über eine gut gesetzte Pointe konnte er sich tagelang freuen.
Als bekannter und erfolgreicher Drehbuchautor genoss er die ihm zu Recht zukommende Anerkennung, deswegen vermied er aber keineswegs Streit, der ihm vielmehr besondere Lust bereitete.
Ein Beispiel von vielen: Bei einem Dinner kam er einmal neben dem Unterhaltungschef des ORF zu sitzen. Der musste damals noch den Ramsch verteidigen, den öffentlich-rechtliches Fernsehen in Reaktion auf die private Konkurrenz heute in großen Flächen seines Programms unbehelligt sendet, und setzte auf ein sprachliches Argument: “Unterhaltung”, meinte der Fernsehmann, beruhe auf dem Wortteil “Unter”. “Nein”, konterte Pluch, “das entscheidende Wort ist Haltung.” In unserer Wahrnehmung changierte auch der große Hofrat zwischen dem “Unter” dionysischer Sehnsüchte und den untadeligen Idealen seiner sozialen und politischen “Haltung”.
Versicherungslautstärke
Er wäre auch wirklich gerne schlank gewesen. Also verordnete er sich einmal pro Woche einen “Obsttag”, an dem er nur Früchte zu sich nahm. Wir verhielten uns an diesen Obsttagen möglichst unauffällig, denn Obst und sonst nichts machte den Boss grantig, und er neigte dann zu wortgewaltigen Ausbrüchen, die wir ob ihrer akustischen Intensität als “Versicherungslautstärke” führten. Wir benannten diese akustischen Sensationen nach einem legendären telefonischen Wutausbruch, den ein in seinen Konsumentenschutzrechten verletzter “Tom” mit einem Versicherungsagenten geführt hatte, der sich ihm gegenüber impertinent verhielt.
Thomas Pluch rechnete also 1983 damit, Chefredakteur zu werden. Aber der damals zuständige Staatssekretär (im Bundeskanzleramt) Franz Löschnak kürte stattdessen Heinz Fahnler, den bekannten Schiedsrichter, der auf den Fußballfeldern der Bundesliga als strenger, aber gerechter Spielleiter als bester Mann seiner Zunft galt. Man nannte ihn nicht nur deshalb “roter Heinzi”. Er war auch parteipolitisch klar positioniert und hatte die richtige Verbindung in der damals noch staatsbeherrschenden SPÖ. Er wusste aber auch Umstände für sich zu nutzen und räumte seinem nunmehrigen Stellvertreter ein weites Betätigungsfeld ein: Thomas Pluchs kreativer Ausbruch, in seiner Heftigkeit auch als Trotzreaktion auf die Personalpolitik erklärbar, gebar ein Literaturmagazin – den “Lesezirkel” – und eine Feuilletonbeilage, das “EXTRA” (der Titel wurde damals noch stolz in Versalien gesetzt). Sein Talent als Netzwerker brachte die intellektuelle Prominenz des Landes in sein Büro und deren Kommentare, Glossen, Essays und Reportagen in die beiden Beilagen.
Das erste “EXTRA”
Am Freitag, den 12. Oktober 1984, erschien also erstmals das “EXTRA zum Wochenende” in der “Wiener Zeitung”, eine 16-seitige Beilage mit Essays, Prosa, Analysen, Buchbesprechungen und traditionellen Beilagenelementen wie Motor, Freizeit, Schach und Briefmarken. Eine eigene Fotoseite war in der ersten Nummer bereits ebenso enthalten wie jeweils eine spezielle “Jugend”- und “Senioren”-Seite.
Die erste Ausgabe der Beilage vom 12. Oktober 1984.
Eröffnet wurde das erste Heft mit einem Essay von Thomas Pluch himself, der über “Das große Wort Moral” schrieb – mit dem pragmatischen Zu-Satz: “Zum besseren Verständnis des Begriffs von der politischen Moral und deren Nutzanwendung”.
Von diesem Freitag an war das “EXTRA” mit seiner ausgiebigen, der Aktualität nur bedingt verpflichteten Hintergrundberichterstattung ein fixer Bestandteil der “Wiener Zeitung” – und ist es, trotz vieler Verwandlungen (vom Titelkopf über Seitenzahl bis zu thematischen Schwerpunkten) bis zum heutigen Tage geblieben. Von Beginn war das “EXTRA” ein Forum für Publizisten und Feuilletonisten aller Art, darunter auch prominente Wissenschafter von Konrad Lorenz bis zu Konrad Paul Liessmann. “Für den Tag geschrieben – Meister der Journalistik” hieß eine Rubrik, in der Beispiele journalistischer Glanzleistungen der Vergangenheit vorgestellt wurden, wie etwa die Sozialreportagen Max Winters.
Auch Themen wie Architektur, Wissenschaft, Theater und Bildende Kunst waren wiederkehrende Elemente dieser Beilage, die sich unter dem Titel “Features” auch eine englischsprachige Seite leistete (die im Jahr 2002 dann in den Hauptteil der Tageszeitung überwechselte).
Während Bereiche wie Touristik, Motor, Freizeit und eine auf der Titelseite über viele Jahre hinweg gezeigte Foto-Serie “Erhaltenswertes Österreich” (mit besonderen Bauten und Denkmälern des Landes) zunehmend in den Hintergrund traten und allmählich ganz verschwanden, entstanden neue Genres, wie etwa eine “Satire”-Seite, aus der wiederum die bis heute existierende Glossenseite hervorging, auf der neben Cartoons und fotohistorischen Beiträgen publizistische Kurzprosa gedieh: pointierte Erzählungen und Kommentare einer Riege von Autorinnen und Autoren, teils dieses Blattes, teils von außen (Holger Rust, Stefanie Holzer, Irene Prugger, Walter Klier, Hans-Paul Nosko und Mario Rausch seien als längstdienende Beiträger erwähnt).
Auch Schätze aus Willy Puchners Privatfoto-Sammlung zierten lange diese Seite, wobei Puchner, renommierter Fotograf und Künstler, über viele Jahre auch eine Foto- und später Galerienseite im “EXTRA” betreute, wo wesentliche Vertreter aller Kunstgattungen vorgestellt wurden. Aus der ursprünglich “Jugend” benannten Seite ist später die “music” geworden, die das rezente Pop-, Rock- und Jazz-Geschehen vorstellt und kritisch sichtet. Aus einer ursprünglich “Historicum” benannten Rubrik ist eine regelmäßige, bei Lesern sehr beliebte breitflächige Beschäftigung mit geschichtlichen Ereignissen und Persönlichkeiten hervorgegangen. Weitere wiederkehrende Elemente waren u.a. eine allumfassende Astronomie-Berichterstattung (unseres Fachautors Christian Pinter) und große, doppelseitige Interviews mit interessanten Zeitgenossen.
Die erste Ausgabe des Literaturmagazins, das die “Wiener Zeitung” gemeinsam mit der Zentralsparkasse herausgegeben hat.
Der “Lesezirkel”, Pluchs zweiter großer Wurf, war vermutlich eines der meistverbreiteten Literaturorgane Österreichs, denn er erschien (von 1983 bis 1994) nicht nur einmal im Monat, sondern lag in allen Filialen der Zen-tralsparkasse in großer Zahl zur freien Entnahme auf. Dieser “Lesezirkel” und das “EXTRA” waren die publizistischen Früchte eines klassisch anmutenden Strebens: Thomas Pluch schuf damit nichts Geringeres als ein Institut für journalistische Schönheit. Lebens- und Arbeitsform sollten sich ganzheitlich zusammenfügen, deshalb endete der Redaktionsalltag öfter in den damals aufblühenden Gaststätten Wiens. Es gab fast immer irgendwen, auf den er dort traf. Und er stellte uns, seine Adlaten, stets vor wie Ziehsöhne.
Auch die Leser sollten sich mit dem “EXTRA” und dem “Lesezirkel” wohlfühlen, sich an thematischer Souveränität und stilistischer Brillanz erfreuen. Ein neuer Ton drang durch die damals doch ein wenig ausgeleierte Staatspublizistik, und er wurde auch bemerkt und geschätzt. Auch der Produktionsprozess hatte sich mittlerweile geändert: Computer hielten Einzug in die Redaktion. Das erste von der Redaktion akzeptierte System namens Cicero wurde just von der “EXTRA”-Redaktion ausgewählt und eingeführt. Es erfüllte Pluch mit Stolz, dass man in seinem Ressort nicht nur schreiben konnte, sondern sich auch auf Technik verstand.
Er selbst begriff die digitale Maschine eher nicht als Instrument der Befreiung, sondern eindeutig als Gefängnis der Möglichkeiten. So manche Tirade gegen das neue Aufschreibesystem kam aus seiner Feder und noch öfter aus seinem Mund. Dem Thema der digitalen Verdüsterung wurde sogar eine eigene Ausgabe des “Lesezirkel” gewidmet. Auch in der Setzerei hatte mittlerweile der Lichtsatz Einzug gehalten. Die Redakteure waren gewissermaßen zu Setzern ihrer Texte geworden, und in der vagen Elektrizität der Halbleiter fühlte sich Pluch nie so ganz zu Hause. Triumphierend stürmten Setzer mit aus den Seiten heraushängenden Druckfahnen in sein Büro, wenn er sich wieder einmal grob verschätzt hatte. Die daran anschließende Vorwärtsverteidigung des Wortgewaltigen, selbstredend in Versicherungslautstärke, nahmen sie für die Bereicherung ihres (und unseres) Anekdoten-Schatzes in Kauf.
Jäher Abschied
Man könnte die Geschichte vom Untergang dieser Redaktion als weitere Abfolge von Anekdoten erzählen, in der Tradition von Friedrich Torbergs “Tante Jolesch”. Allerdings weist die Historie typische Merkmale der Arbeit in prekären Branchen auf: immer neue digitale Herausforderungen bei tendenziell sinkenden Beschäftigungszahlen, mehr Arbeitsrecht bei steigendem Arbeitsdruck. Doch je klarer die Arbeitsplatz-Beschreibungen wurden, umso mehr schwanden die Zukunftsaussichten. Leider verschwand auch Thomas Pluch viel zu früh von der Bildfläche, als ihn im Jahr 1992 – während einer Preisverleihung (bei der er für eines seiner Fernsehspiele geehrt wurde) – ein bestürzend jäher Tod ereilte. In der Folge übernahmen wir, die beiden “Ziehsöhne”, zuerst der eine, dann der andere, das Pluchsche Erbe – in Form der Leitung dieser Beilage.
In der Reihe legendärer Chefredakteure nahm Heinz Fahnler einen besonderen Platz ein. Er startete sogenannte Budgetverhandlungen, bei denen es vor allem darum ging, ihn von unseren Wunschvorstellungen zu überzeugen, gerne mit einigen Bieren. Später wurde der Dialog von einem langen Weinflaschen-Zug flankiert, und die ersten Zigarettenpäckchen waren aufgeraucht. Wenn dann zwischen den “EXTRA”-Redakteuren und dem Chef immer noch kein Konsens über das Honorarbudget zustande gekommen war, wurden stärkere Geschütze, also hoch- und höchstprozentige Spirituosen aufgefahren. Heinz Fahnler gewann diesen Wettbewerb immer, doch spät in der Nacht wurde er weich. Unter Einsatz unserer Lebe(r)n erreichten wir bedenklich wankend fast immer unsere Ziele, zumal sie nie unverschämt waren.
Strenger Sprachmagier
Fahnlers Nachfolger, Peter Bochskanl, brachte den Sprachvirtuosen David Axmann in unsere Beilage. Ursprünglich war sein Engagement als Versorgungsposten angedacht. Der Spiritus Rector des einstmals legendären, aber von der Pleite bedrohten “Wiener Journal”, das als Beilage in die “Wiener Zeitung” übernommen (und in eine Abfolge unterschiedlich ausgerichteter Magazine verwandelt) wurde, erwies sich aber rasch als Sprachmagier, der einen neuen Stil in die redaktionellen Redigate brachte.
So sahen Druckfahnen mitunter aus, nachdem sie “axmannisiert” worden waren . . .
Während im “EXTRA” vor Axmann ein minimalinvasiver Umgang selbst mit sprachlich hoffnungslosen Beiträgen gepflegt wurde, operierte Axmann (als dessen Nachlassverwalter auch in dieser Hinsicht in der Tradition des wenig zimperlichen Friedrich Torberg stehend) großflächig. Den Resultaten seiner Lektorate wurde zu Recht der Begriff “rotes Meer” verliehen. Nach gründlicher “Axmannisierung” waren selbst auf den ersten Blick gut scheinende Manuskripte mit roten Auszeichnungen und Anmerkungen übersät. Aber die Texte waren danach immer besser als vorher. Das sprach sich bald herum, und mutige Redakteure legten ihre Artikel dem kauzigen Mann freiwillig vor und nahmen seine grundsätzlich letztinstanzlichen Sprachurteile demütig hin. Leider verließ auch dieser gute Mann uns mit einem ebenfalls jähen Tod 2015 zu früh.
Auch über die lange Reihe der Chefredakteure, die mal rot, mal schwarz, dem “extra” (seit diesem Jahrhundert durchgängig in Kleinbuchstaben) letztverantwortlich vorstanden, lässt sich sagen, dass keiner von ihnen der Qualität des “extra” den Respekt versagt hätte. Über die indolente Respektlosigkeit der Einstellung von Zeitung und Wochenendbeilage ist freilich bereits alles gesagt worden.