In Sonntagsreden zum Journalismus wird gerne die Unantastbarkeit der Pressefreiheit beschworen. Wie wichtig sie sei – eine tragende Säule der Demokratie! Genau jene Unabhängigkeit, die manche Autorinnen und Autoren übrigens mit dem Recht verwechseln, ungestört Predigten für ihre Weltanschauung zu publizieren. Aber darum geht es nicht. Denn wo ist sie denn, die Pressefreiheit? Manchmal blüht das Pflänzchen der Freiheit ja an Orten, an denen man es nie vermutet hätte. In der staatseigenen “Wiener Zeitung” etwa war sie stets geschützt. Allen voran im Feuilleton der “Wiener Zeitung”. In den 13 Jahren seiner Existenz habe ich nie erlebt, dass jemand auch nur den Versuch eines Eingriffs gewagt hätte. Das lag nicht, wie man meinen könnte, an der Wehrhaftigkeit des Personals (manche würden auch sagen: Kratzbürstigkeit). Denn besondere Wehrhaftigkeit war gar nicht nötig. Es gab sie schlicht nicht, die Eingriffe. Nicht ein einziges Mal.
Manchmal hat der Leser recht
Welche Ironie das ist: Ein angebliches Staatsblatt und sein Feuilleton waren die freieste Zeitung der Welt. Wir konnten stets schreiben, was wir für gut, schön und richtig hielten. Was wir, als Redakteurinnen und Redakteure für wert erachtet haben. Was uns wichtig für unsere Leser erschien. Aber auch das, was einfach sein musste, auch wenn es uns nicht gefiel oder besonderen Spaß machte. Faktum war: Unsere Konferenzen waren das Debattengremium, in dem diese Entscheidungen im Team fielen. Nicht in irgendwelchen Hinterzimmern, auf Zuruf, auf Bitte, auf Hinsichtl und Rücksichtl und schon gar nicht wegen despotischer Eigentümer, die ihre Partikularinteressen gerne mal mit der Brechstange durchsetzen, wie das in anderen Verlagen durchaus vorkommen kann.
Irgendwie müssen das unsere Leser gespürt haben, denn die Rückmeldungen, die wir bekamen, bestätigten uns stets auf unserem Kurs. Sicherlich: Nicht immer gefiel Herrn und Frau Leser das Gebotene. Da machte man sich am Telefon oder per Brief (ja, tatsächlich!) Luft und dann war es wieder gut. Und manchmal hatte er ja auch recht, der Leser.
Manchmal haben wir uns sogar den Luxus erlaubt, über ein Thema ein bis zwei Tage länger nachzudenken. Nicht in halsbrecherischer Harakiri-Aktion auf den hereinbrechenden Zug aufzuspringen. Sondern bewusst noch etwas nachzudenken und dann einen klugen, reflektierten und – ja, sagen wir, wie es ist, einfach besseren Text zu bringen als rasch zusammengegoogeltes Halbwissen aus dem Internet. “Der Leser wirds erwarten” war ein geflügeltes Wort, das der Autor dieser Zeilen gerne im Spaß monierte. Aber es steckt ein Körnchen Wahrheit im Bonmot. Wir waren nie die Schnellsten, dazu fehlte uns immer Manpower und Infrastruktur. Aber wir waren an gar nicht so wenigen Tagen die Besten.
Zugegeben, das lag auch an der ungenierten Ausstattung an Platz, der unserem Ressort stets zur Verfügung stand. Fünf, manchmal auch sechs tägliche Seiten. Davon können andere Kulturressorts nur träumen und müssen sich mit der Hälfte begnügen. Das schränkt natürlich in der Regel auf das bloße Pflichtprogramm ein. Raum für eine Kür bleibt da nur an schwachen Tagen.
Wir waren da anders aufgestellt. Unsere Coverseite, die Sie hier lesen, war immer der Platz für unsere Kür. Der Ort, wo wir die Leser lieber überraschten, als dem Routinetrott nachzugehen. Und so kam es dann, dass eine geschliffene Reflexion über den Einfluss von Dagobert Duck auf den Spätkapitalismus nun mal konsequenterweise Vorrang vor der neuesten Volte um eine kulturpolitische Burgtheater-Affäre hatte. Man muss eben Prioritäten setzen.
Wir packen zusammen
Und wir denken, dass unsere Leser das schätzten. Jahrelang zierte ein ausgedrucktes Posting aus dem “Standard”-Forum die Pinnwand des letzten Chefredakteurs. Dort stand sinngemäß geschrieben: “Im Feuilleton der ,Wiener Zeitung schreiben nur Spinner, Nerds und Obskuranten. Und ich liebe es dafür.” Auch geärgert hat man sich über uns, so warf uns ein erboster Leser hin, das Feuilleton wäre “der Hort der letzten Reaktionäre dieses Landes”. Auch das landete auf der Pinnwand. Und Grüße auch zurück von Günther!
Besonders am Herzen lang uns immer unser wohlkuratiertes Ensemble an Autorinnen und Autoren. Diese Menschen mit teils völlig anderem Hintergrund und Ansichten brachten immer ihre ganz spezifische Sicht der Dinge ein. Ob in London, Tokyo oder Berlin zu Hause: Sie haben doch stets perfekt zu uns gepasst, man kannte sich über viele Jahre und schätzte sich. Auch war uns immer wichtig, junge Kolleginnen und Kollegen bei ihren ersten Schritten im Journalismus zu helfen und eine Plattform zu bieten. So mancher Rohdiamant ging durch unsere Seiten. Sie schreiben heute in Medien in halb Europa. Danke, ohne Euch wäre das alles niemals möglich gewesen.
Warum wir gehen müssen, warum ausgerechnet das “Feuilleton” neben dem “Extra” und den “Zeitreisen” als verzichtbar gewertet wird, hat uns nie jemand erklärt. Man wird sich wohl etwas dabei gedacht haben. Oder auch nicht. So etwas kann schon mal vorkommen.
Und so sammeln wir unsere Habseligkeiten zusammen, schnüren sie in ein Päckchen und verlassen am Freitag für immer unsere Wirkungsstätte. Es ist kein schöner Abschied. Keiner “mit erhobenem Haupt”, wie man so sagt. Wer das denkt, hat nichts verstanden oder schwindelt. Eher einer mit gesenktem Kopf und, ja, voller Trauer und Sorgen. So wie es war, wird es nicht mehr. Und was danach kommt, können wir noch nicht sagen. Es ist ja nicht so, dass nur die “Wiener Zeitung” einen Braindrain erleidet. Leider greift dieses Virus der intellektuellen Vernichtung auch anderswo um sich.
Wie auch immer: Wir werden nicht aufgeben. Und vor allem werden wir nicht zulassen, dass uns der Mund verboten wird. Da kommen die “Spinner, Nerds und Obskuranten” in uns durch. In diesem Sinne: Danke für Ihre Loyalität. Bitte halten Sie die Augen nach uns offen. Au Revoir!