Drei Tage nach seiner Kreuzband-Operation durfte Marcel Hirscher (35) die Privatklinik Ragnitz auf Krücken verlassen. Im Talk mit oe24.TV verriet Hirscher-Operateur Dr. Jürgen Mandl, wie es mit den Skistar weiter geht.
oe24: Herr Doktor, können Sie uns bitte erklären, was in Marcels Knie passiert ist, und was Sie unternommen haben?
Jürgen Mandl: Marcel hat einen isolierten Kreuzbandriss und zusätzlich eine Verletzung des äußeren Kapselband-Apparates, wie es häufig vorkommt. Glücklicherweise hat er keine wesentlichen Schäden am Knorpel und am Meniskus. Wir haben das Kreuzband mit einer Quadrizeps-Sehne rekonstruiert. Da gibt’s verschiedene Transplantat-Möglichkeiten. Wir konnten viel von der eigentlichen Kreuzbandstruktur erhalten, was für die Prognose und den Heilungsverlauf gut ist.
oe24: Was sind die nächsten Schritte?
Mandl: Rein physisch passt alles. Marcel wird heute aus dem Krankenhaus entlassen. Mit seinen Therapeuten ist alles auf Schiene. Er hat ein professionelles Team um sich. Mental muss er das erst verkraften, weil er genau diese Situation nicht kennt.
oe24: Marcel hat nach seinem Unfall extrem gefasst gewirkt und sinngemäß gemeint, dass er froh ist, dass er sich erst jetzt derart schwer verletzt hat. Nimmt er das wirklich so cool?
Mandl: Er ist extrem kontrolliert und fokussiert. Aber mit so was darf man nie rechnen. Skiprofis bewegen sich täglich in einem Grenzbereich, wo viele Dinge in Millisekunden entschieden werden. Da ist selbst Marcel nicht davor gefeit. Jetzt geht’s darum, dass er lernt, diese Situation anzunehmen und lernt, und zuzulassen, was rund um ihn passiert.
oe24: Wie sieht sein weiterer Fahrplan aus?
Mandl: Marcel hat entschieden, die Rehabilitation in seiner Heimat durchzuführen und er wird dabei seinem Betreuerstab vertrauen. Mit dem sind mein Partner Dr. Mark Passl und ich im Kontakt, dabei sprechen wir die nächsten therapeutischen Schritte ab.
oe24: Medizinisch, meinten Sie, würde nichts gegen ein weiteres Comeback sprechen. Bei einem Kreuzband ist immer wieder von einem halben Jahr die Rede, nachdem wieder belastet werden kann. Also müsste Marcel nächste Saison wieder Rennen fahren können, wenn er das will, oder?
Mandl: ,Müsste‘ ist eine schwierige Definition in der Medizin. Wann ist ein Band soweit, dass es wieder belastbar ist? Da steht das halbe Jahr immer wieder im Raum. Aber da hängt viel vom Einheilungsverhalten und von den Begleitverletzungen ab.
oe24: Wann werden Sie Marcel wieder sehen?
Mandl: Die Nahtentfernung wird von Dr. Gerhard Oberthaler in Salzburg durchgeführt. Mit dem bin ich seit Jahren befreundet, und Marcel vertraut ihm. Die nächste Kontrolle gibt’s sechs Wochen nach der Operation. Aber natürlich sind wir praktisch täglich im Austausch mit den Therapeuten.
oe24: Wie lange wird Marcel noch Krücken benötigen?
Mandl: Nach etwa vier Wochen sollte es möglich sein, die Krücken wegzulassen, das hängt aber vom Gangbild ab, das ist individuell sehr verschieden. Ich warne davor, Kreuzbandruptur mit Kreuzbandruptur zu vergleichen. Jeder Patient, jede Verletzung hat eigene Gesetze.
oe24: Wie viel von seiner Fitness wird Marcel in den nächsten Wochen abbauen?
Mandl: Er hat mir erzählt, dass er jetzt besser beisammen war als in seiner früheren aktiven Zeit. Er ist in einem Top-Zustand, und er hat mit Peter Meliessnig einen der besten Konditionstrainer, die es derzeit gibt. Er hat schon jetzt wieder begonnen, die Muskulatur rundherum zu trainieren, das ist der Marcel. Rt versucht sich immer fit zu halten, er kann gar nicht ohne Training. Da wird schon wieder am Oberkörper gearbeitet. Die Teile, die geschont werden müssen, bleiben vorerst noch ausgespart.
“Wir bewegen uns in einem absoluten Grenzbereich”
oe24: Noch eine Frage zu den immer häufiger werdenden Kreuzbandverletzungen: Geben Sie mir recht, dass das moderne Material in Verbindung mit rennmäßig präparierten Pisten Knie und Bänder an die Grenze der Belastbarkeit bringt?
Mandl: Da gebe ich Ihnen recht. In den letzten Jahren war das schon eine Gratwanderung: Welcher Körper schafft es, rechtzeitig zu reagieren, wenn das Signal ,Überbelastung‘ kommt. Wenn es heißt: ,Jetzt kommt Druck oder Stress‘. Es gibt Rezeptoren, die das melden. Man kann trainieren, damit umzugehen – aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Diese Erfahrung hat selbst ein derart gut vorbereitet und trainierter Profiathlet wie Marcel Hirscher machen müssen. Wir bewegen uns in einem absoluten Grenzbereich.
oe24: Apropos Grenzbereich: Was halten Sie als Mediziner davon, dass Lindsey Vonn mit 40 Jahren und einer Teilprothese im Knie ihr Renncomeback gibt.
Mandl: Für mich ist das unvorstellbar. Kollege Dr. Passl ist bei uns für die Prothetik zuständig. Da sind die Patienten froh, wenn sie wieder Golf spielen und kleine Bergwanderungen machen können. Ob man damit unbedingt wieder in den Weltcup einsteigen muss, ob das sein muss, dazu möcht ich nix sagen.
Das Gespräch wurde auf oe24.TV ausgestrahlt.