Nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu sind in der Türkei den vierten Abend in Folge Menschen zum Protest auf die Straße gegangen. 

In Istanbul, Ankara, Izmir und anderen Städten setzten sich am Samstagabend Demonstrationsmärsche in Gang, wie lokale Medien und Beobachter berichteten. Das Istanbuler Gouverneursamt hatte zuvor die Protestverbote für die Stadt verschärft und verlängert. Ab Sonntag gelten Zugangsbeschränkungen, teilte das Amt mit.

Auf Bildern der Nachrichtenagentur Anka von einer Versammlung in Istanbul waren Tausende Teilnehmer zu sehen. Aus Istanbul und Ankara wurde auch erneut der Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten berichtet. Auch tagsüber war von Protest aus verschiedenen Teilen des Landes berichtet worden.

İmamoğlu wurde am Samstag nach mehrstündiger Befragung auf der Polizeiwache zum Gericht gebracht worden. Dort gab er am Abend eine Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft ab. Er sollte zudem einem Richter zur Aussage vorgeführt werden. Ob darauf die Anordnung einer Untersuchungshaft folgen wird, ist ungewiss. Vor dem Gerichtsgebäude hatte die Polizei zahlreiche Wasserwerfer in Position gebracht. Auch dort kamen Menschen zum Protest zusammen. Die Zeitung “Cumhuriyet” berichtete, die Polizei hätte Anwälte daran gehindert, in das Gerichtsgebäude zu gelangen und teilte ein Video von einer Rangelei. In dem Gericht sollten rund 90 Personen, die am Mittwoch wie Imamoglu festgenommen wurden, noch am Samstagabend befragt werden.

Zusammenstöße auch in Ankara und Izmir

Zuvor hatten sich an neuen Protesten gegen die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters und Oppositionspolitikers İmamoğlu hunderttausende Menschen beteiligt. Die Polizei ging hart mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden in mehreren Städten insgesamt 343 Menschen festgenommen.

“Wir sind 300.000 Menschen”, rief der Vorsitzende von Imamoglus Partei CHP, Özgür Özel, am Freitag der vor dem Rathaus versammelten Menge zu. Özel sagte bei der Kundgebung, die Demonstranten hätten sich aufgrund von Straßensperrungen und Brückenschließungen an verschiedenen Orten in Istanbul versammelt. “Das ist keine Demonstration der CHP, die Menschen hier kommen von allen Parteien und sind gekommen, um Solidarität mit Bürgermeister Imamoglu zu zeigen und für die Demokratie einzustehen.” Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen wichtigster politischer Rivale İmamoğlu ist, wolle die Justiz als “Waffe” gegen den Bürgermeister einsetzen.

In der Hauptstadt Ankara gab es ebenfalls Zusammenstöße zwischen Polizisten und Demonstranten. In der westtürkischen Küstenstadt Izmir setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um die Demonstranten auseinanderzutreiben, wie der Sender Halk TV berichtete. Die Polizei ging mit Tränengas, Pfeffersprays und Gummigeschoßen gegen die Demonstranten vor. In der Stadt Izmir im Westen der Türkei setzten die Beamten auch Wasserwerfer ein, um die Teilnehmer einer weiteren Kundgebung der Opposition auseinanderzutreiben, meldete Halk TV.

Ziel der Maßnahmen sei es, eine “Störung der öffentlichen Ordnung” zu verhindern, erklärte das Innenministerium. Die Behörden würden “Chaos und Provokationen” nicht dulden.

İmamoğlu, der als einer der aussichtsreichen Rivalen des Langzeitpräsidenten Erdoğan gilt, war Mittwoch früh nach einer Razzia in seinem Haus festgenommen worden. Außer ihm wurden mehr als hundert weitere Menschen festgenommen, darunter Mitarbeiter, Abgeordnete und CHP-Mitglieder. Der 53-jährige Bürgermeister von Istanbul wird laut Staatsanwaltschaft unter anderem der Korruption und Erpressung beschuldigt. Ihm wird vorgeworfen, Anführer einer “kriminellen Organisation” zu sein. Nach Angaben des Justizministeriums lautet ein weiterer Vorwurf “Unterstützung von Terrorismus”. Dabei gehe es um mutmaßliche Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Am Sonntag soll İmamoğlu trotz seiner Festnahme offiziell zum Kandidaten seiner Partei für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 gekürt werden.

Imamoglu weist Terrorismusvorwürfe zurück

İmamoğlu hat seinerseits die gegen ihn erhobenen Terrorismusvorwürfe zurückgewiesen. Das geht aus einem Gerichtsdokument hervor, das der Nachrichtenagentur Reuters am Samstag vorgelegt wurde. “Ich habe heute während meines Verhörs gesehen, dass ich und meine Kollegen mit unvorstellbaren Anschuldigungen und Verleumdungen konfrontiert sind”, sagte İmamoğlu bei einem Verhör der Anti-Terror-Polizei.

“Diese Verleumdungen werden abprallen, nachdem sie auf die Mauern im Herzen unserer Nation getroffen sind”, ergänzte Imamoglu. “Unser Land muss sich so schnell wie möglich von dieser Mentalität befreien, die davon ausgeht, dass sie alles tun darf, um ihren Sitz zu schützen”, sagte İmamoğlu in Anspielung auf Erdoğan.

Am Dienstag hatte die Universität Istanbul Imamoglu seinen dort erworbenen Abschluss wegen angeblich “offensichtlicher Fehler” aberkannt. Der Politiker könnte damit von einer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen werden, für die ein Hochschuldiplom eine Voraussetzung ist.

Erdoğan nennt Demonstrationen “Straßenterror”

Erdoğan nannte die Demonstrationen nach der Festnahme İmamoğlus “Straßenterror”, dem sich die Türkei nicht ergeben werde. Die Opposition versuche die Ermittlungen als Vorwand zu verwenden, um die Straßen ins “Chaos” zu stürzen. Die linksnationalistische Oppositionspartei CHP verliere “ihren Status als eine Partei, die auf legitimer politischer Grundlage agiert.”

Mit Blick auf die gegen İmamoğlu erhobenen Vorwürfe und die Aufrufe zu Protesten betonte Erdoğan: “Es ist zutiefst unverantwortlich, zur Verteidigung von Diebstahl, Plünderung, Illegalität und Betrug auf die Straße zu verweisen, anstatt vor Gericht zu gehen.”

Weitere Städte verhängen Kundgebungsverbot

Nach Istanbul verhängten auch weitere Städte in der Türkei ein Demonstrationsverbot. In der Hauptstadt Ankara gilt bis einschließlich Dienstag (25. März) für fünf Tage eine Demonstrations- und Versammlungssperre, wie das Gouverneursamt mitteilte. Gleiches teilten auch die Gouverneursämter der Hafenstadt Izmir und der Provinz Manisa mit. Justizminister Yilmaz Tunc nannte die Aufrufe zu den Demonstrationen auf der Grundlage von laufenden juristischen Ermittlungen “rechtswidrig und inakzeptabel”. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Protesten bisher 53 Menschen festgenommen. 16 Polizisten wurden bei Zwischenfällen verletzt.

Dutzende Menschen wurden zudem von den Behörden wegen kritischer Beiträge auf Online-Plattformen verhaftet. Die Behörden hätten 326 verdächtige Inhaber von Online-Accounts wegen “Anstiftung zu Straftaten” identifiziert, teilte Innenminister Ali Yerlikaya auf X mit. Davon lebten 72 im Ausland.

Regierungskritische Seiten auf X blockiert

Berichten zufolge wurden zahlreiche Seiten von feministischen und studentischen Zusammenschlüssen auf der Plattform X blockiert. Laut der türkischen Initiative zur Überwachung von Internetzensur Engelliweb wurden seit der Festnahme Imamoglus am Mittwoch mindestens 85 Accounts gesperrt. So war etwa auch die Seite der bedeutenden Frauenrechtsorganisation Mor Dayanisma am Samstag nicht erreichbar.

X-Inhaber Elon Musk erkläre, dass seine Plattform für das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung kämpfen werde, zensiere aber willkürlich Hunderte von Konten von Studenten und der Zivilgesellschaft, schrieb der Cyberrechts-Experte Yaman Akdeniz auf der Plattform.

Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi wurden bisher 56 Social-Media-Nutzer unter dem Vorwurf der Anstiftung zu Unruhen festgenommen. Die Nachrichtenplattform Medyascope berichtete, der regierungsnahe Sender NTV habe die Ausstrahlung einer Rede von Oppositionschef Özgür Özel unterbrochen, als dieser regierungsfreundliche Medien kritisierte.

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