Und nachher? – Das ist die große Frage in jedem Krieg. Der Kriegsausgang kann sie höchstens dann beantworten, wenn das Kriegsziel eindeutig erreicht ist. Doch selbst dann bleiben Ungewissheiten: Erzwungener Frieden hält, das lehrt die Geschichte, allzu oft nur solange, bis der besiegte Gegner seine Ressourcen wieder konsolidiert hat.
Wenn Carl von Clausewitz in seiner Abhandlung „Vom Kriege“ schreibt: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, dann müssen die Kriegsparteien zu einem Punkt kommen, an dem sie den Satz umkehren: „Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“.
Im Nahost-Konflikt sind diese anderen Mittel längst definiert. Wie sie umgesetzt werden sollen: Das ist der Knoten, den es zu lösen gilt.
Drei Versionen sind permanent im Gespräch: Die Einstaaten-, die Zweistaatenlösung und die Dreistaatenlösung; seltener bemüht werden der „Peace and Prosperity“-Plan und die Föderationslösung (auch Neu-Staaten-Lösung), die der deutsche Historiker Michael Wolffsohn propagiert. Alle diese Lösungen haben sowohl Vorzüge als auch gravierende Nachteile.
Einstaatlösung
Das Konzept der Einstaatlösung sieht vor, dass aus den Gebieten Israel, Westjordanland und Gaza-Streifen ein einheitlicher Staat gebildet wird. Die Staatsform soll eine Demokratie sein. Jüd:innen und Araber:innen sollen beide eine gleichwertige Staatsbürgerschaft besitzen und gleichberechtigt miteinander leben.
Der gravierende Nachteil der Einstaatlösung ist, dass dieses Konzept sowohl bei Palästinenser:innen wie Israelis von vorneherein auf wenig Gegenliebe trifft. Die meisten Palästinener:innen können sich aufgrund der Geschichte schlicht eine Gleichberechtigung im Zusammenleben mit Israelis nicht vorstellen, zu sehr sind sie von der Nakba geprägt. Viele Israelis wiederum fürchten, dass die kinderreicheren palästinensischen Familien die Gesellschaft eines solchen Staates über kurz oder lang in eine Schieflage bringen und Juden zur Minderheit im eigenen Land werden könnten.
Die meisten Staaten mit arabischer bzw. muslimischer Bevölkerungsmehrheit haben die jüdische Bevölkerung vertrieben oder zumindest massiv schlechter gestellt. Hinzu kommen historische Beispiele von der Fehlfunktion multiethnischer Staaten: Jugoslawien, Österreich-Ungarn und nicht zuletzt gerade Palästina während der britischen Mandatszeit sind Beispiele dafür, dass ein friedliches Zusammenleben nicht funktioniert, wenn sich die Bevölkerungsteile stärker über ihre eigene Ethnie als über die des Staates, in dem sie leben, definieren.
Zweistaatenlösung
Die Zweistaatenlösung ist das am häufigsten ins Treffen geführte Konzept. Sie geht vom UN-Teilungsplan von 1947 aus, der neben Israel ein unabhängiges Palästina vorsieht. Israel soll jüdisch geprägt sein und Palästina muslimisch. Beide Staaten sollen das jeweilige Existenzrecht des anderen anerkennen und eine friedliche Nachbarschaft leben.
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Die Durchführung dieses Plans scheitert vor allem an unterschiedlichen Auffassungen vom Grenzverlauf: Die palästinensische Seite beharrt auf der Waffenstillstandslinie von vor dem Sechstagekrieg 1967. Damit würde der Staat Palästina die im Juni 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebiete des Westjordanlandes (inklusive Ost-Jerusalem) und den Gazastreifen umfassen. Israel hingegen verweigert die Aufgabe der besetzten Territorien. Mittlerweile läuft auch die Siedlungspolitik Israels der Zweistaatenlösung zuwider: Israel treibt den Siedlungsbau im Westjordanland voran. Käme ein Staat Palästina zustande, müsste entweder Israel die jüdischen Siedlungen abbrechen, was zumindest dem gegenwärtigen israelischen Selbstverständnis widerspricht, oder Palästina müsste jüdische Enklaven auf seinem Staatsgebiet akzeptieren. Dabei würde Israel allerdings mit als Sicherheit anzunehmender Wahrscheinlichkeit darauf beharren, die Siedlungen mit israelischem Militär zu schützen, womit Palästina keine volle Souveränität über sein Staatsgebiet hätte.
Dreistaatenlösung
Das Konzept der Dreistaatenlösung sieht vor, dass Israel die Kontrolle des Gazastreifens an Ägypten und die eines Teils des Westjordanlandes an Jordanien abtritt. Eine Variante der Dreistaatenlösung ist, dass zwei palästinensische Staaten entstehen: einer im Westjordanland und einer im Gazastreifen. Sie werden von unterschiedlichen palästinensischen politischen Gruppierungen kontrolliert.
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Die Dreistaatenlösung scheitert allerdings an den ins Spiel gebrachten Akteuren: Keine der palästinensischen Fraktionen unterstützt diese Variante, und obendrein wollen weder Ägypten noch Jordanien die Verantwortung für die Palästinenser-Gebiete übernehmen.
„Peace to Prosperity“
Der Plan mit dem Titel „Peace to Prosperity“ (Frieden und Wohlstand) wurde vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu ins Spiel gebracht. Auf dem Papier ist die Basis die Zweistaatenlösung, allerdings mit erheblichen Zugeständnissen an die Wünsche Israels – und mit der bekannten Problematik der Enklaven. Der Plan sieht so aus: Rund 80 Prozent des Westjordanlandes in den Grenzen von 1967 sollen der „Palästinenserstaat” werden.
Allerdings gelten die israelischen Siedlungen als Enklaven unter israelischem Recht. Der Palästinenserstaat ist völlig demilitarisiert und entwaffnet. Die Gebietsannexionen Israels sind anzuerkennen, als Ausgleich sind Ausgleichsflächen in der Negev-Wüste an der Grenze zu Ägypten für den neuen Palästinenserstaat vorgesehen, von denen eine als Industriezone und eine als Wohngebiet gedacht ist, der Gazastreifen soll die Verbindung zwischen den beiden Regionen herstellen. Schutzmacht über das Gaza-Gebiet wäre Ägypten und Jordanien das über das im Westjordanland. Netanjahu nannte die Vorgehensweise einen „Jahrhundertplan“.
Der Nachteil: Er war völlig einseitig, nämlich zwischen Trump und Netanjahu, ausgedealt, ohne die palästinensische Seite auch nur anzuhören, geschweige denn miteinzubeziehen, etwa zur Frage eines entmilitarisierten Staates, der damit selbst bei einer reinen Verteidigung auf das Wohlwollen seiner Schutzmächte angewiesen wäre. Es ist auch schwer vorstellbar, dass Israel den Schutz der Siedler-Enklaven anderen Staaten anvertrauen würde. Das bedeutet, dass in dieser Konstruktion der Staat Palästina zwar auf eigenes Militär verzichten, aber israelisches Militär auf seinem Staatsgebiet akzeptieren müsste. Ablehnung kam auch von ägyptischer und jordanischer Seite.
Konföderationslösung
Die Konföderationslösung schlug der deutsche Historiker Michael Wolffsohn vor. Er wirbt für einen Staatenbund Jordanien-Palästina mit „Westjordanien“ (Westjordanland) und dem Gazastreifen. Die Konföderation wäre erweiterbar in Richtung eines Staatenbundes “Palästina-Jordanien-Israel”. Laut Wolffsohn würde das den demographischen Realitäten entsprechen: Im Westjordanland leben derzeit rund 22 Prozent Juden, während in Israel umgekehrt 23 Prozent der Bürger palästinensische Wurzeln haben.
Einen Bevölkerungsaustausch hält Wolffsohn angesichts dieser Zahlen für unrealistisch. Wolffsohn: „Die Araber Israels, die bekanntermaßen Palästinenser sind, blieben in Israel und bekämen entweder das Wahlrecht fürs palästinensisch-jordanische oder, basierend auf individueller Entscheidung, fürs israelische Parlament. Sowohl jüdisch-israelische als auch palästinensische und jordanische Selbstbestimmung wären gewährleistet. Ebenso die jeweilige Staatlichkeit.”
Frage der Durchführbarkeit
Gerade in der derzeitigen Situation nach dem Überfall der Hamas und der Reaktion Israels erheben sich weltweit Stimmen, die ein differenziertes Verständnis für beide Seiten aufbringen und sowohl den Überfall der Hamas auf Israel mit unbeschreiblichen Gräueltaten verurteilen als auch die Frage stellen, ob die von Israel durchgeführten Flächenbombardements in einem akzeptablen Verhältnis stehen. So titelt das Kinderhilfswerk der vereinten Nationen, die Unicef: „Gaza ist zu einem Friedhof für Tausende Kinder geworden” und gibt am 31. Oktober eine Zahl von 3.450 getöteten Kindern in Gaza an, und jeden Tag werden es mehr. „Es muss etwas getan werden zur Befriedung des Nahostkonflikts, so kann es nicht weitergehen“, ist der Tenor.
Nach wie vor scheint die Zweistaatenlösung am zielführendsten. Doch es gibt ein Problem, das vielfach ausgeblendet wird, nämlich die Frage, wer vermitteln kann.
Dass Israel, sollten keine weiteren Einmischungen anderer Staaten erfolgen, die Hamas-Kämpfer vorerst einmal niederringen wird, ist anzunehmen. Doch erstens steht ein militärischer Sieg gegen Terrororganisationen auf wackeligen Beinen, und zweitens bedeutet ein Sieg noch keinen Frieden, sondern lediglich das vorläufige Aussetzen weiterer kriegerischer Akte.
Soll ein Friedensprozess zielführend sein, bedarf es eines langwierigen Weges, an dessen Anfang stehen muss, dass beide Seiten Vertrauen zueinander fassen und Verhandlungen auf Augenhöhe führen.
Fehlendes Vertrauen
Im Nahostkonflikt ist die Situation verfahren: In Israel fehlt nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 das Vertrauen zu den Palästinensern. Das betrifft nicht nur die Hamas, sondern es herrscht ein allgemeines Misstrauen, auch eines der israelischen Zivilgesellschaft gegenüber der palästinensischen Zivilgesellschaft. So sprechen israelische Hardliner den Palästinenser:innen sogar ab, ein Volk zu sein. Auf der anderen Seite hat die Hamas die Vernichtung Israels als erklärtes Ziel.
Könnte ein Vermittler bei der Anbahnung eines Nahost-Friedensprozesses helfen? Man ist versucht, die Frage schnell zu bejahen, doch sie zieht eine weitere Frage nach sich: Wer genießt das Vertrauen beider Gegner? Die arabische Seite hegt größtes Misstrauen nicht nur gegen Israel, den „kleinen Satan“, sondern vor allem gegen die USA, den „großen Satan“. Israel wiederum hat zwar mit Ägypten, Jordanien, Bahrain, Marokko, dem Sudan und den Vereinigten Arabischen Emiraten Friedensverträge bzw. Abkommen, doch ob die Basis stark genug ist, dass Israel bei israelisch-palästinensischen Verhandlungen einen arabischen Vermittler akzeptiert, ist fraglich.
UNO in schwacher Position
Die UNO wiederum wird von Israel argwöhnisch beäugt, zu oft sind Resolutionen gegen Israel wegen Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen verabschiedet worden. Zuletzt hat das UN-Menschenrechtsbüro Israel Kriegsverbrechen vorgeworfen, denn den mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen Strom und Treibstoff vorzuenthalten sei eine kollektive Bestrafung. Das gelte völkerrechtlich als Kriegsverbrechen, so die UN-Sprecherin Ravina Shamdasani. Überhaupt verortet Israel Menschenrechtsorganisationen auf der pro-palästinensischen Seite.
Nun könnte zwar, wie jüngst ins Treffen geführt, der Internationale Gerichtshof in Den Haag (ICC) den Knoten lösen, indem er mit einem Gutachten auf rein rechtlicher Basis eine Verhandlungsgrundlage schafft. Doch ob sich Israel damit arrangieren könnte, ist zweifelhaft. Israel unterzeichnete zwar das Römer Statut von 1998, das zur Gründung des ICC führte, ratifizierte es aber nicht. 2021 warf Netanjahu dem ICC „puren Antisemitismus“ vor, weil dieser zum Schluss gekommen war, dass alle Gebiete, die Israel im Sechstagekrieg 1967 besetzt hat, also Gaza, das Westjordanland und Ostjerusalem, in die Zuständigkeit von Den Haag fallen, was bedeutet, dass sich der ICC zumisst, allfällige Kriegsverbrechen Israels zu untersuchen. Das nächste Patt.
Womit zu befürchten steht, dass nach dem Gaza-Krieg eine Änderung erst eintreten wird, wenn auf israelischer wie auf palästinensischer Seite Akteure ins Spiel kommen, die beide in ihrer eigenen Nation ausreichend Rückhalt haben und einander genug vertrauen, dass selbst gezielte Terrorakte von radikalen Kräften den Friedensprozess nicht stoppen können. Bis dahin wird weiterhin der Status quo eines gegenseitigen Belauerns, Provozierens und fallweise Gewaltanwendens herrschen. Gemessen am derzeitigen Geschehen wäre freilich schon das ein Fortschritt.