Größte Demonstrationen seit den regierungskritischen Gezi-Protesten des Jahres 2013
Die Massenproteste in der Türkei wurden zwar durch die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters und Oppositionspolitikers Ekrem İmamoğlu ausgelöst. Doch mit den Großdemonstrationen in Städten wie Istanbul und Ankara entlädt sich auch angestauter Frust über die Lage im Land, das von Langzeitpräsident Recep Tayyip Erdoğan mit harter Hand regiert wird.
“Es gibt große Wut”, sagt der Abgeordnete Yüksel Taskin von Imamoglus Partei CHP. “Die Menschen gehen spontan auf die Straße. Manche junge Menschen engagieren sich zum ersten Mal in ihrem Leben politisch.”
Gefühl gefangen zu sein
Die derzeitigen Demonstrationen von hunderttausenden Menschen sind die größten seit den regierungskritischen Gezi-Protesten des Jahres 2013. “Das Gefühl, gefangen zu sein – wirtschaftlich, sozial, politisch und selbst kulturell – war schon weit verbreitet”, sagt der Journalist und Buchautor Kemal Can. Die Festnahme von İmamoğlu, dem wichtigsten politischen Rivalen von Erdoğan, sei nun der Funke gewesen.
Es sei zu einer starken Reaktion gekommen, “insbesondere bei jungen Menschen, die sich über ihre Zukunft in einem Land Sorgen machen, in dem Freiheiten immer mehr eingeschränkt werden”, sagt Can.
“Diejenigen, die uns regieren, verletzen unsere Rechte”, sagt der Medizinstudent Ara Yildirim in Istanbul. Er hofft, dass die Proteste nicht nachlassen. “Wir werden noch in 20, 30 oder 40 Jahren in der Türkei leben, wir müssen dieses Land nach oben ziehen.”
Forderung nach mehr Rechte
Die 26-jährige Verkäuferin Sevval, die an den Protesten teilnimmt und ihren Nachnamen nicht nennen will, sieht die Türkei auf dem Weg in eine “Diktatur”. “Wir wollen mehr Rechte, wir wollen in Freiheit und Wohlstand leben.”
Der 25-jährige Koray wiederum will die Türkei verlassen, zuvor aber noch helfen, “die Dinge zu verbessern”. Als Homosexueller seien ihm die Freiheitsrechte besonders wichtig, “aber der Hauptgrund, warum junge Menschen auf der Straße sind, ist die Wirtschaft”, sagte er mit Blick auf die Wirtschaftskrise und die hohe Inflation in dem Land.
Der Journalist Can sagt, auch wenn sich die Proteste an der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters entzündeten, sei das nicht alles. “Das ist eine Reaktion, die weit über Imamoglu hinausgeht.”
So sind die Demonstrationen nicht auf Anhänger der oppositionellen CHP beschränkt. “Es geht nicht nur um die CHP, sondern um alle”, sagt Parteivertreter Ilhan Uzgel. “Die Frage ist, ob die Türkei unter einem autoritären Regime leben oder ein demokratisches Land sein wird.”
Kurden haben sich Protesten angeschlossen
Auch die pro-kurdische Oppositionspartei DEM hat sich der Protestbewegung angeschlossen. “Über Jahre hat die Regierung versucht, die Opposition zu spalten”, sagt Journalist Can, der eine Reihe von Büchern über die türkische Gesellschaft geschrieben hat. “Das ist ihr immer wieder gelungen. Aber dieses Mal hat die Opposition diese Strategie durchkreuzt.”
Die Erdoğan-Regierung wirft der DEM immer wieder Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor. Zuletzt bemühte sich die Regierung aber um ein Ende des Konflikts mit der PKK. Ende Februar rief der inhaftierte Kurdenführer Abdullah Öcalan schließlich zur Auflösung der von ihm mitgegründeten Organisation und zum Gewaltverzicht auf.
Gönül Tol vom Middle East Institute in den USA sagt, die türkische Regierung habe mit ihren Friedensangeboten an die PKK einen “Keil” zwischen die Oppositionsparteien CHP und DEM treiben wollen. Das sei aber angesichts der Unterstützung der DEM für die Proteste gegen İmamoğlus Festnahme gescheitert.
Kommende Tage werden entscheidend sein
Die Frage ist nun, wie weit die Demonstrationen gehen und wie lange sie anhalten werden. Can zufolge will die Regierung die Protestbewegung durch “Druck, Demonstrationsverbote und Festnahmen” schwächen. Sollten die Demonstranten den Eindruck vermitteln, dass ihre Entschlossenheit nachlässt, “wird die Regierung den Druck erhöhen”. Can ist sich sicher: “Die kommenden Tage werden entscheidend sein.”