Ihr offener Umgang mit Schwächen und Rückschlägen ist ihre große Stärke. Was wir von der Ski-Ikone lernen können. Der Talk.
Unter all den bemerkenswerten Athletinnen, die der Profisport im Laufe der letzten Jahrzehnte hervorbrachte, nimmt Lindsey Vonn (39) einen besonderen Platz ein. Ihr offener Umgang mit Schicksalsschlägen (Mama Linda starb 2022 an ALS), schweren Verletzungen und ihrem jahrelangen Kampf gegen den eigenen Körper sowie Depressionen machte Lindsey zu einem Idol für mehrere Generationen von Frauen – weit über die Grenzen des Skisports hinaus. Erst kürzlich sprach sie via Social Media ihren verletzten Skikolleginnen Mut zu: „Ich wurde verletzt und gebrochen, aber jedes Mal bin ich als eine bessere Person auf der anderen Seite herausgekommen. Egal, wie oft ich gefallen bin, ich bin immer wieder aufgestanden.“
Und das eindrucksvoll. „Strong“ lautet der Titel ihres 2017 veröffentlichten Buches – ein Manifest für die Selbstliebe. Fünf Jahre nach dem Ende ihrer großen Karriere (Vonn ist Olympiasiegerin, Weltmeisterin und mehrfache Skiweltcupgewinnerin) verdient die US-Amerikanerin nicht nur das Prädikat „strong“, sondern „stronger“. Gewachsen, reflektiert und stets vom Gedanken getragen, andere Frauen ein Stück stärker zu machen und gesundheitliche Themen wie Depression aus der Tabuecke zu holen – so erlebten wir Lindsey Vonn beim Interview in Frankfurt am Rande der Kollektionspräsentation ihres Langzeitsponsors Under Armour. Im Interview spricht sie über ihr Leben nach der großen Karriereende, den Schlüssel zu guter Fitness und wie sie mit sich selbst ins Reine kam.
Lindsey, Sie zeigen uns auf diesen Seiten einige Lieblingsübungen für mehr Kraft. Geben Sie uns einen Einblick in Ihre derzeitige Fitness-Routine.
Lindsey Vonn: Es gibt keine Routine mehr. Das Schöne an der Sportpension ist, dass ich nicht mehr in eine Struktur gepresst werde. Ich musste so viele Jahre einem starren Trainingsregime folgen – jeden Punkt auf einer Liste abarbeiten. Jetzt genieße ich es, frei entscheiden zu können, wonach mir ist. Ich gehe ins Gym, um Spaß zu haben – ohne Plan, dafür nach Bauchgefühl. Wichtig ist mir nach wie vor jedoch Regelmäßigkeit. Ich versuche mich mindestens fünfmal pro Woche zu bewegen. Ich spiele viel Tennis und versuche, da besser zu werden. Gerade arbeite ich am Top-Spin. Was ich in all den Jahren gelernt habe: Der Schlüssel zu guter Fitness ist Spaß. Man muss nur etwas finden, das einem richtig Vergnügen bereitet.
Sie motivieren nicht nur zu körperlicher Stärke, sondern stellen auch die psychische Gesundheit in den Fokus. Ihr offener Kampf gegen die Depression soll das Thema enttabuisieren. Welche Tools haben Sie entwickelt, um mit Hochs und Tiefs umzugehen?
Vonn: Ich schreibe Tagebuch. Das hilft mir sehr. Denn manchmal möchte ich niemandem erzählen, wie es mir geht. Durch das Niederschreiben kann ich meine Gefühle trotzdem ausdrücken. Es hilft mir auch, über meine Ziele nachzudenken. Ich schreibe nicht nur, wenn es mir schlecht geht, sondern auch, wenn ich mich gut fühle. Zum Beispiel: „Ich hatte einen großartigen Tag“. An einem weniger guten Tag blättere ich zurück und erinnere mich. Das hilft, einen Schalter umzulegen. Ich versuche mich dann an das Gefühl zu erinnern und dahin zurückzukommen.
Lastet zu viel Druck auf uns?
Vonn: Auf Frauen lastet enorm viel Druck – Kinder, Job, Social Media, das eigene Image… Für meine Psyche ist Social Media immer eine Herausforderung – ich glaube, für jede und jeden ist das so. Im Umgang damit ist es wichtig zu wissen, wer man ist und selbstbewusst zu sein. Je weniger man von außen beeinflusst werden kann, desto besser. Die meisten wirklich erfolgreichen Menschen sind erfolgreich, weil sie sehr selbstbewusst sind. Und egal, wie viele Likes man bekommt, man fühlt sich nicht gut – es sei denn, man ist zufrieden mit sich selbst. Es beginnt immer mit dir.
In Ihrem Buch „Strong“ haben Sie 2017 darüber geschrieben, wie unwohl Sie sich auf Red Carpets neben all den zur Perfektion getrimmten Menschen fühlen. Für viele Frauen war dieses Outing befreiend. Es gab viel Resonanz. Gibt es dieses Gefühl bei Ihnen noch?
Vonn: Ich habe Narben, ich habe Dehnungsstreifen, ich habe Cellulite. 99 Prozent aller Frauen haben Cellulite. Ich habe mittlerweile gelernt, freundlicher und liebenswürdiger mir und meinem Körper gegenüber zu sein. Jeder ist verschieden, es gibt unterschiedliche Bodytypen. Ich zum Beispiel habe Muskeln. Und das ist gut so! Ich versuche, gesund zu bleiben, mich nicht mehr zu sehr zu kritisieren, mich um meinen Körper zu kümmern und ein Leben in Balance zu führen. Niemand ist perfekt. Ich bin es definitiv nicht. Aber es wird immer Momente geben, in denen Stimmen im Kopf auftauchen, die das Selbstwertgefühl trüben. Sich stark zu fühlen, ist ein lebenslanger Prozess. Die zentrale Frage lautet: Warum sollte ich mich vergleichen?