Spätestens seit dem Amtsantritt Donald Trumps und der damit verbundenen radikalen Kehrtwende in der Ukraine-Politik wächst auch in Europa wieder die Angst vor einem Krieg. Zahlreiche Experten befürchten bereits in wenigen Jahren einen russischen Angriff auf ein NATO- bzw. EU-Land.
Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Uni Potsdam lässt nun mit einer besonders drastischen Warnung aufhorchen. Im Interview mit Phoenix warnt der Experte davor, dass Putin den Westen testen könnte. „Testen meint einen begrenzten Angriff, wo immer der erfolgen mag, um dann zu sehen, wie die Reaktion ist.“
Besonders das geplante große Sapad-Militärmanöver von Russland und Belarus im Sommer bereiten Neitzel Sorgen. „Wenn sie mal mit Kollegen in Litauen reden, dann sagen die: Das werden die Russen nutzen, diese Vorbereitung und dieses Manöver, um uns anzugreifen“, so der Experte. „Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben.“
Auch BND-Chef warnt
Auch nach Einschätzung von BND-Chef Bruno Kahl will Russland die Einheit des Westens auf die Probe stellen – insbesondere mit Blick auf den NATO-Beistandsartikel. In Russland gebe es Überlegungen, den Artikel 5 in seiner Zuverlässigkeit zu testen, sagte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) der Deutschen Welle.
“Wir hoffen sehr, dass das nicht stimmt und dass wir nicht in die Verlegenheit kommen, dass es getestet wird, aber dass es Russland will, uns testen, die Einheit des Westens auf die Probe zu stellen, davon müssen wir ausgehen”, sagte der Chef des deutschen Auslandsnachrichtendienstes.
Die NATO setzt als Verteidigungsbündnis auf das Prinzip Abschreckung, und dafür ist vor allem Artikel 5 des Nordatlantikvertrags relevant. Er regelt die Beistandsverpflichtung in der Allianz und besagt, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Alliierte als ein Angriff gegen alle angesehen wird.
Verlauf des Ukraine-Krieges spielt Rolle
Wann Russland den Beistandsartikel austesten könnte, hängt nach Kahls Worten auch vom Verlauf des Ukraine-Krieges ab. Wenn dieser früher zum Stillstand komme als 2029 oder 2030, sei Russland auch früher in der Lage, mit seinen technischen, materiellen und personellen Mitteln eine Drohkulisse gegen Europa aufzubauen.
“Und da kann es auch sein, dass eine konkrete Gefährdung, eine Erpressung vielleicht von russischer Seite aus gegenüber den Europäern früher stattfindet, als wir das früher berechnet haben”, sagte Kahl. “Ein frühes Kriegsende in der Ukraine befähigt die Russen, ihre Energie dort einzusetzen, wo sie sie eigentlich haben wollen, nämlich gegen Europa.”
Russland habe eine künftige Weltordnung vor Augen, wie sie Ende der 1990er-Jahre in Europa bestanden habe – mit einem Zurückdrängen des Schutzes der NATO und einer Ausdehnung der Einflusssphäre Russlands in Richtung Westen – am besten ohne die Amerikaner in Europa, sagte Kahl.